Manipulationsanfällig. Verzerrend. Nicht mehr zeitgemäß. Zu unsicher. Zu instabil. Der Libor muss seit Jahren viele Beschimpfungen über sich ergehen lassen. Zeitweise war der Libor die Verkörperung all dessen, was mit dem globalen Finanzsystem nicht in Ordnung war. Gier, Manipulation, Täuschung, Betrug, Verrat, all das wurde dem Libor angelastet. Deshalb, und weil nach Meinung der Aufsichtsbehörden in den USA und Großbritannien die Geschäftsbasis für Libor Geschäfte zwischen den Banken weggefallen ist, und der Libor entsprechend nicht mehr zeitgemäß sei, müsse der Libor nun durch SOFR, SONIA, €STR und andere Overnight Sätze ersetzt werden. Denn diese neuen Overnight-Sätze basieren allesamt auf tatsächlich gehandelten Transaktionen, die den Behörden gemeldet wurden. Interessant, dass der Markt SOFR, SONIA und €STR großteils ignoriert. Möchten die Banken und Investoren dieser Welt denn keine Zinsbenchmark, die ehrlich, transparent, nachvollziehbar und geschäftsbasiert ist?

Transkationsbasiert: Ist das ein Haken?

Die neuen Benchmark-Lieblinge der internationalen Aufsichtsbehörden sind allesamt transaktionsbasiert. Nur, wenn bestimmte Geschäfte im Interbankenmarkt tatsächlich stattfinden und gemeldet werden, fließen sie in die Berechnung mit ein. Das klingt auf den ersten Blick gut. Bei näherem Hinsehen mag das aber ihre größte Schwäche sein. Denn was ist mit den Geschäften, die abgelehnt werden? Den Trades, die angefragt werden aber nie zustande kommen, weil es Bonitäts- oder Liquiditätssorgen gibt oder gar beides?

Libor: Oft nur Quotes und Schätzungen

Beim Libor hingegen ist es genau anders. Hier geben Banken an, zu welchen Konditionen sie sich in den verschiedensten Laufzeiten (über Nacht, für eine Woche, einen Monat, zwei Monate, drei Monate, sechs Monate und 12 Monate) in fünf Währungen Geld geliehen haben. Haben sie sich nichts geliehen, geben sie an, wo sie denken, dass sie sich Geld leihen könnten, und zwar unbesichert. Die Höhe des Libors spiegelt entsprechend sowohl Bonitäts- als auch Liquiditätsrisiken wider. So viel zur Idee. In der Finanzkrise um 2008, als sich niemand mehr von anderen Geld leihen konnte oder wollte, wurden die Quotes auch dazu missbraucht, die Libor-Benchmarks zugunsten der eigenen Positionen zu manipulieren. Trotzdem: Wir sollten nicht vergessen, dass Libor auch Schätzungen für jene Geschäfte enthält, die nie stattgefunden haben. Sind die herkömmlichen Libor Sätze dadurch möglicherweise ein besserer Spiegel dessen, was wirklich im Markt abläuft?

Angebot, Nachfrage und Liquidität

Die Spreads zwischen den Overnight Sätzen und Libor sind seit Jahren hoch. Denn tatsächliche Geschäfte geben nur einen Teil des Geschehens im Markt wider. Gerade im Repo-Markt und bei unbesicherten Interbanken-Einlagen, die für die neuen Overnight-Sätze zentral sind, wird nicht jedes Geschäft ausgeführt. Es mag am fehlenden Collateral liegen oder an Linien, die ausgeschöpft sind. Liquiditätsengpässe sind die Folge, und die wiederum schränken Angebot und Nachfrage ein. Übrig bleiben zu wenige, zu gute Adressen, die untereinander mit sehr niedrigen Spreads handeln, die für andere, normalere Marktteilnehmer nicht realistisch sind. Libor hingegen spiegelt das ganze Spektrum der Marktteilnehmer wider, was auch höhere Spreads zur Folge hat. Ist Libor am Ende also doch nicht so schlecht? Und gaukeln uns €STR, SONIA und SOFR gar etwas vor, das so gar nicht ist?

Liquidität und Bonität: Verzerrungen im Overnight Markt

Erst am 10. August konnte man das Liquiditätsproblem und möglicherweise auch ein Bonitätsproblem im €STR deutlich sehen. Im seit Oktober 2019 von der EZB berechneten €STR fanden sich erstmals nicht genug tatsächlich stattgefundene Geschäfte. Der €STR konnte nicht berechnet werden! Stattdessen mussten die Werte des Vortrags genommen werden. Von den 50 gemeldeten Banken im zugrundeliegenden, unbesicherten Fixed Rate Deposit Markt waren nur 15 an diesem Tag mit gemeldeten Geschäften am Start. Ob die anderen bloß keinen Erfolg hatten und Geschäfte abgelehnt wurden, darüber gibt uns der €STR leider keine Information.

Senken Liquiditäts- und Bonitätssorgen den €STR?

In sämtlichen Lehrbüchern zur Volkswirtschaftslehre steht geschrieben, dass Sorgen um Bonität und Liquidität der Geschäftspartner zu steigenden Zinsen führen müssen. Was aber, wenn die Overnight-Sätze genau das Gegenteil machen? Dieses sehr interessante Argument beruht auf der Überlegung, dass diejenigen, denen der Markt weniger Vertrauen entgegen bringt, nun nicht mehr am Repo Markt und schon gar nicht am unbesicherten Fixed Rate Deposit Geschäft teilnehmen können, weil niemand mit ihnen Geschäfte macht. Das Geld aber, das sie bisher im Repo oder unbesicherten Interbanken-Markt bekommen haben, muss trotzdem bei irgend jemandem geparkt werden. Übrig geblieben sind nun aber nur relativ wenige Marktteilnehmer, auf die das Geld verteilt wird, und diese Marktteilnehmer sind einerseits höher in ihrer Bonität, und zudem können sie dank weggefallener Konkurrenz bessere Konditionen aushandeln. Entsprechend sinkt die Repo-Rate oder der unbesicherte Einlagensatz und mit diesen €STR, SONIA, SOFR & Co. Und das, obwohl die Marktteilnehmer ganz konkrete Sorgen bezüglich Bonität und Liquidität haben. Ein Indiz für eine derartige Situation ist einerseits eine abnehmende Zahl der aktiven Marktteilnehmer, und zudem ein abnehmendes Volumen. Außerdem weitet sich der Spread zwischen den auf Transaktionen basierten Sätzen und jenen, die auf Quotes und Schätzungen basieren, wie eben der Libor. Eine gewagte Theorie, die man im Markt aber immer öfter hört und liest, und die wir ebenfalls alles andere als abwegig finden.

Gibt es eine Lösung?

Die Frage ist natürlich berechtigt. Einerseits fürchten wir uns vor Manipulation und wollen Transparenz. Beides liefern uns SOFR, €STR, SONIA & Co. Andererseits brauchen wir dringend Zins-Benchmarks, die alle Fundamentaldaten widerspiegeln, und zwar ungeschminkt und unverfälscht. Das wiederum können uns die Libor-Sätze bieten. Der Markt zeigt übrigens ganz deutlich, was er von den neuen Overnight-Sätzen hält, die angeblich alles besser machen und Libor ersetzen werden. Die Referenzsätze der ersten Wahl für Neugeschäfte bei Zinsderivaten sind nach wie vor die Libors. Wer am Ende das Rennen gewinnen wird, man weiß es nicht. Möglicherweise haben die Erschaffer des neuen Euribors einen guten Mittelweg gefunden. Denn der Euribor wird seit einiger Zeit sowohl anhand transaktionsbasierter Daten berechnet, doch, wenn davon nicht genug vorhanden sind, zusätzlich mit Quotierungen ergänzt. Die vielen Verwerfungen der neuen Overnight-Sätze und ihre scheinbare Losgelöstheit von Fundamentaldaten sollten uns zumindest wachrütteln, damit wir gemeinsam nach Gründen und Lösungen suchen können.