Kreditentscheidungen, Zinssatzfestsetzung, Beurteilung und Bewertung von Fixed Income Produkten, Derivatebewertungen, Private Equity, Mezzanin Finance, Credit Default Swaps, Collateralberechnungen, Repo-Sätze, das und noch viel mehr ist direkt abhängig von Bonitätseinschätzungen. Die Kreditwürdigkeit hängt bekannter Maßen ab von der Ausfallwahrscheinlichkeit sowie der Verwertungsrate im Konkursfall. Diese zu berechnen und korrekt vorher zu sagen zählt zu den wichtigsten und zentralsten Kompetenzen von Banken, institutionellen Investoren, Risikomanagern und Brokern. Dass dabei immer wieder Fehleinschätzungen gemacht werden und sich die Bonitätslage auch kurzfristig dramatisch verändern kann, zeigen die vielen notleidenden Kredite, die Banken weltweit in ihren Büchern führen. In unserem Spezialbereich Derivate sehen wir immer und immer wieder Phasen, in denen sich Modelle und Bewertungen aufgrund falscher Bonitätseinschätzungen als nicht mehr gewinnbringend herausstellen und zu gigantischen Verlusten führen. Können durch vermehrten Einsatz von Algorithmen und künstlicher Intelligenz hier bessere Entscheidungen getroffen werden? Wo liegen die Vorteile von AI gegenüber menschlichen Entscheidungsträgern, und wo könnten Risiken und Nachteile lauern?

Menschen oder Maschine

Es ist zweifelsohne die Hauptkompetenz einer klassischen Geschäftsbank, für ihre Kunden qualifizierte Bonitätseinschätzungen vornehmen zu können. Den Bewertungen liegen historische Daten zugrunde, idealerweise über drei Jahre oder länger. Kontostände, Kontobewegungen, Branchendaten, Immobilienpreisentwicklungen in der Region und der jeweiligen Straße, bis hin zu ganz banalen Dingen wie Häufigkeit von Mahngebühren, aber auch komplexere Variablen wie Anzahl der Geschäftsbeziehungen, Durationsanalysen, Fälligkeitstabellen und Vermögensverteilung. Hinzu kommt im klassischen Banking immer noch das persönliche Kreditgespräch, in dem sich der Kreditberater ein eigenes Bild über den potenziellen Schuldner macht. Dabei werden dem Kreditnehmer nicht selten noch andere Produkte im Cross-Selling Ansatz schmackhaft gemacht.

Werden Kreditentscheidungen rein per Algorithmus getroffen, fließen ebenfalls viele Datenpunkte ein. Ob der Antragsteller persönlich bekannt ist und dem Kreditberater sympathisch, spielt dabei keine Rolle mehr. Der Algorithmus entscheidet anhand historischer Daten, vergleicht diese mit einer Vielzahl verknüpfter Daten zum Kreditnehmer, die über Big Data erhältlich sind, sowie über das Objekt, das finanziert werden muss, und trifft darauf basierend eine Entscheidung sowohl über die Bonität als auch gleich über die mögliche Kreditsumme sowie den nötigen Zins-Spread. Eine Reihe deutscher Immobilienfinanzierer geht bereits nach diesem Konzept vor, es ist also bereits Realität und keine Zukunftsversion. Bei Immobiliendarlehen ist das naturgemäß deutlich einfacher, da die Immobilie als Sicherheit dient und die Bonitätseinschätzung des Individuums, die deutlich komplexer ist als Immobilienpreisentwicklungen zu analysieren, weniger ins Gewicht fällt.

Vorteil der Geschwindigkeit

Werden Kreditentscheidungen von Menschen getroffen, kann sich das in die Länge ziehen. Der Antragstellung folgt eine Kreditanalyse, auf deren Basis eine Kreditentscheidungsvorlage erarbeitet wird, die über den Kundenbetreuer in das Kreditkomitee wandert, das wiederum nur in regelmäßigen Abständen tagt, und in dem dann der Kreditantrag behandelt wird. Läuft es sehr gut, wird der Antrag sofort genehmigt. Häufig aber werden noch weitere Daten angefordert und der Antrag wird zurück an den Kundenbetreuer gegeben, der diesen dann im nächsten Kreditkomitee wieder vorlegen kann. Wie man sich unschwer vorstellen kann eine langwierige Sache, noch dazu geprägt von bewussten und unbewussten Vorurteilen, Sympathien, Vetternwirtschaft, Interessenkonflikten, politischer Einflussnahme und anderen, nicht rein auf Finanzdaten basierenden Entscheidungsgrundlagen. Beispiele dafür finden sich selbst in der jüngeren Vergangenheit reichlich. Im deutschsprachigen Raum hatten wir in 2020 die kuriosen Machenschaften der Commerzialbank Mattersburg, die Kredite an lokale Fußballvereine und befreundete Unternehmer vergeben hatte, diese Fehlentscheidungen mit Bilanzfälschungen verschleiern wollte und schließlich unterging. Oder die Greensill Bank in Bremen, die im März 2021 wegen Überschuldung von der Bafin geschlossen wurde.

Menschen machen Fehler. Algorithmen auch.

Algorithmen arbeiten hier deutlich schneller. In Sekundenschnelle weiß der Unternehmer oder Kreditnehmer, ob er einen Kredit bekommt, wie hoch die maximale Kreditsumme sein darf und zu welchen Konditionen diese vergeben wird. Die Datenpunkte werden vom Algorithmus schnell erhoben, die Dokumente automatisiert erstellt und das Verfahren effizient, kostengünstig und abseits von Emotionen, Vorurteilen und Vetternwirtschaft durchgeführt. So zumindest die Theorie. In der Praxis werden Algorithmen von ganz realen Menschen programmiert. Auch künstliche Intelligenz wird am Anfang von Programmierern mit Code ins Leben gerufen. Künstliche Intelligenz bedeutet, dass der Algorithmus aus Fehlentscheidungen den Code entsprechend weiter optimiert und weiterentwickelt. Doch wenn bereits am Anfang bewusste oder unbewusst Vorurteile des Programmierers in den Code fließen, etwa in Bezug auf Geschlecht, Rasse, Alter oder Herkunft, so wird sich dieser Faden auch durch den Code des sich weiter entwickelnden Algorithmus auswirken. Hinzu kommt die Verwendung der Daten, die ebenfalls Verzerrungen bewirken können. Denn historische Daten spiegeln ganz klar die bisher in der Kreditvergabe gelebten Entscheidungsmuster wider. Wurden Kredite, die von Menschen vergeben wurden, hauptsächlich an Männer vergeben und wurde Männern eine höhere Bonität eingeräumt als Frauen, so wird der Algorithmus, der sich auf diese historischen Daten bezieht, ebenfalls Männer bevorzugen. Das Gleiche gilt für die Altersstruktur der Kreditnehmer. Auch wenn Menschen immer älter werden, erhalten sie schon recht früh kaum noch einen Kredit, denn die verwendeten Daten beziehen sich auf Verläufe der Vergangenheit. Algorithmen sind entsprechend nicht frei von Vorurteilen und Fehleinschätzungen.

Vorteile der Automatisierung

Die Automatisierung des Kreditwesens und der Bonitätsbeurteilung hat viele Vorteile. Sie ist deutlich effizienter, kann unvergleichlich mehr Datenpunkte verknüpfen als das ein Mensch je könnte, und auch die Erstellung der gesamten Dokumentation ist dadurch effizienter, fehlerfreier und transparenter. Allerdings sind Algorithmen nicht frei von Fehlern, und es sollte zumindest eine kritische Überprüfung der Entscheidungen durch natürliche Menschen möglich sein. Ob diese dann über die nötige Erfahrung und Kompetenz verfügen, ist die nächste Frage. Am Anfang wird es bestimmt noch Personen geben, die mit Kreditentscheidungen und Bonitätsberechnungen zu tun hatten, aber das wird schnell zu Ende sein. Zudem braucht es jemanden, der den Code versteht, den der Algorithmus zugrunde legt. Der Umstieg selbst mag einfach sein, doch die richtigen Entscheidungen zu treffen, die der echten Bonitätsentwicklung auch entsprechen und das beste Risiko-Ertrags-Verhältnis für den Kreditgeber schaffen, bedarf einer sehr feinen Abstimmung.