Seit der Zinserhöhung durch die FED vor einer Woche, am 15. Juni, um 0,75%, überschlagen sich die Medien geradezu mit Lob für diese angeblich mutige Entscheidung. Europäische Zeitungen fordern gar ähnlich „mutige Schritte“ von der EZB. Als Begründung für die Zinserhöhung nennt die FED den Kampf gegen die Teuerung, und so fordern auch europäische Journalisten, dass die EZB endlich entschieden gegen die Inflation vorgeht, und zwar ebenfalls mit Zinserhöhungen.

Höhere Preise und höhere Zinsen

Es stimmt. Die Preise für Diesel, Benzin, Gas und Strom haben sich über die vergangenen 12 Monate verdoppelt und mancherorts sogar verdreifacht. Die Preise für Grundnahrungsmittel sind spürbar teurer, sogar das Eis in der Eisdiele nebenan oder das Frühstücksbrötchen beim Bäcker um die Ecke haben kräftig angezogen. Doch kann mir bitte jemand sagen, wie es mir und anderen Verbrauchern helfen wird, wenn wir neben dramatisch höheren Energie- und Lebensmittelpreisen auch noch höhere Zinsen für unsere Immobiliendarlehen und höhere Leasingraten für unser Auto zahlen müssen? Oder wenn der Unternehmer sich durch gestiegene Zinsen gegen einen Kredit und damit gegen eine geplante Expansion entscheidet? Wenn der Unternehmer womöglich gar keinen Kredit von seiner Bank bekommt, weil diese noch restriktiver mit dem nun teureren Kapital umgeht, und der Unternehmer damit vielleicht sogar gezwungen wird, Einsparungen in Form von Entlassungen und Rationalisierungen durchzuführen? Zinserhöhungen treffen übrigens nicht nur Einzelpersonen und Unternehmen. Die größten Schuldner sind unsere Staaten. Die meisten westlichen Staaten haben sich seit der Finanzmarktkrise 2008 immer mehr verschuldet, haben ihrem Schuldenstand mit Corona einen Turboboost verpasst, und sie machen seit dem Ukraine-Krieg munter weiter mit dem Geldausgeben. Wie können diese Schulden bei höheren Zinsen finanziert werden?

Die offizielle Erklärung

Die Argumentation der FED und diverser Wirtschaftsjournalisten, warum unbedingt am besten ganz hohe Zinsen her müssen, um die Inflation zu bekämpfen, ist wie folgt: Hebt die Notenbank den Leitzins (das ist übrigens der Zinssatz, zu dem sich Banken bei der Zentralbank Geld leihen können), werden Geschäftsbanken die Zinsen für Kredite und für Spareinlagen erhöhen. Dadurch sinkt einerseits die Nachfrage nach Krediten und gleichzeitig wollen die Menschen mehr sparen. Das entzieht dem Wirtschaftskreislauf Geld und damit Nachfrage. Menschen und Unternehmen kaufen weniger, es gibt weniger Nachfrage und als Folge werden auch die Preise wieder sinken. Diese Argumentation geht davon aus, dass wir derzeit zu viel Geld in Umlauf haben, und die Preissteigerungen auf eine zu hohe Nachfrage zurückgehen. Entspricht das denn überhaupt der Wirklichkeit?

Woher kommen die Preissteigerungen?

Die Preise sind gestiegen. Das lässt sich nicht Schönreden. Viel interessanter ist jedoch die Ursache des Preisanstiegs. Denn erst wenn wir die Gründe kennen, lassen sich gute Lösungen finden. Liegt der Grund denn tatsächlich in einer viel zu hohen Nachfrage und zu viel Geld im Wirtschaftskreislauf? Das wäre der Fall, wenn wir in den letzten zwölf Monaten über alle Branchen hinweg robuste und sehr hohe Steigerungen bei Löhnen und Gehältern gesehen hätten, zudem jede Menge neu geschaffener Arbeitsstellen, einen ausgesprochen optimistischen Geschäftsklimaindex und Menschen und Unternehmen, die aufgrund ihrer positiven Zukunftserwartung Kredite aufnehmen, um zu investieren und zu konsumieren. Die vielen, neuen Euros, die durch die satten Lohnerhöhungen nun in den Taschen der Menschen sind, sitzen locker, da die Arbeitnehmer auch in der nahen Zukunft weitere Steigerungen erwarten. Unternehmen erwarten weiterhin steigende Absatzzahlen aufgrund robuster Nachfrage und investieren und expandieren. Sie stellen viele neue Arbeitnehmer ein und auch diesen sitzen die Euros locker in der Tasche und sie konsumieren, anstatt zu sparen. In dieser Situation trifft mehr Geld auf das gleiche Angebot an Waren und die Preise steigen aufgrund der Nachfrage. Zinserhöhungen kühlen den Optimismus ab, Konsum und Investitionen werden zum Teil mit Sparen ersetzt, und die Preise gehen aufgrund der verminderten Nachfrage wieder zurück. Aber Halt! Der ifo Geschäftsklimaindex dümpelt noch immer deutlich unter 100 vor sich hin. Im Mai 2022 lag der Geschäftsklimaindex bei 93 Punkten, ein Jahr zuvor waren es noch 98,8. Die Erwartungen lagen im Mai 2022 bei 86,9 Punkten, verglichen mit 102,1 Punkten ein Jahr zuvor. Die positiven Entwicklungen und Erwartungen bei Unternehmen können also nicht der Grund für die Preissteigerungen über das vergangene Jahr sein. Wie steht es also mit den satten Lohnerhöhungen und den vielen, neu eingestellten Arbeitskräften? Einige Branchen haben tatsächlich gute Lohnerhöhungen bekommen, wie etwa die Metaller mit 6,5% ab 1. August 2022. Insgesamt erwartet etwa eine Randstad-ifo-Studie durchschnittlich 4,7% für 2022. Im Jahr 2021 stiegen die Löhne und Gehälter um durchschnittlich 3,8%, nachdem sie 2020 um 0,7% gefallen waren. Insgesamt nicht schlecht, aber auch keine üppigen Erhöhungen außerhalb der Norm, die zu Übermut verführen. Die Erwerbsquote lag 2021 übrigens bei 55,7% und damit niedriger als 2020, wo wir in Deutschland noch 56% hatten. Im laufenden Jahr verbessert sich die Lage zum Glück wieder. Es gibt dabei aber keinen dramatischen Boom bei Neueinstellungen. Laut Statistischem Bundesamt gab es im April 2022 insgesamt 45,39 Millionen Erwerbstätige in Deutschland, etwas mehr als ein Jahr davor mit 44,62 Millionen Menschen. Das klingt alles eher nach Erholung nach der Corona-Delle, als nach dramatischer Überhitzung am Arbeitsmarkt. In den USA sieht die Lage übrigens ganz ähnlich aus. Dort dümpelt die Partizipationsrate ebenfalls vor sich hin, und auch dramatische Lohnsteigerungen sind bisher ausgeblieben. Woher kommen also die Preissteigerungen für Benzin, Diesel, Gas, Strom und Lebensmittel?

Preisschock durch fehlendes Angebot

Da weder überbordender Optimismus der Konsumenten und Unternehmer noch eine maßlose Zunahme an verfügbarem Geld auf den Girokonten der Bevölkerung und damit eine dem plötzlichen und absoluten Kaufrausch verfallene Weltbevölkerung die Ursache für die extremen Preissteigerungen sind, bleibt die andere Seite der Gleichung als Erklärung übrig. Es ist das Angebot, das sich verändert hat, und nicht die Nachfrage. Ganz überraschend kommt die Sache übrigens nicht. Bereits Anfang 2020 brachen die ersten Lieferketten zusammen. Die globale Corona-Panik brachte das fragile Gefüge globaler Logistikströme nicht nur durcheinander, sondern vielfach komplett zum Erliegen. Eine Zeit lang gab es kaum Flugverbindungen. Der Containerverkehr per Schiff war durch geschlossene oder nur bedingt arbeitende Seehäfen eingeschränkt. Gleichzeitig aber wurde vor allem die zahlungskräftige Bevölkerung in Nordamerika, Australien, Neuseeland und Europa zu Hause eingesperrt und geriet tatsächlich kurzfristig in einen kleinen Konsumrausch, und zwar auf Amazon, Ebay und Co. Der Versandhandel boomte, und damit auch die Nachfrage nach Produkten aus Fernost. Da aber die Logistikketten zusammen gebrochen waren, waren viele Waren nicht lieferbar. Bauteile, Rohstoffe, oft ganz banale Dinge wie leere Container waren schlicht nicht am richtigen Ort zur richtigen Zeit. Erinnert sich jemand daran, dass durch Corona plötzlich fast jeder ein neues Fahrrad wollte, es aber keine Fahrräder mehr zu kaufen gab, weil sie nicht geliefert werden konnten aufgrund fehlender Transporte und Container? Oder an Produktionsstopps bei großen Automobilkonzernen, weil es keine Bauteile mehr gab?

Und die Teuerung bei Erdöl und Erdgas?

Gerne werden die Teuerungen bei Diesel, Benzin, Gas und Strom dem Krieg in der Ukraine zugeschoben. Wohlgemerkt einem Land, das selbst weder Erdöl noch Erdgas produziert und in dem sich auch keine nennenswerte Raffinerie befindet, die uns nun fehlen würde. Es stimmt wohl, dass Pipelines durch das Land gehen, doch selbst wenn, gäbe es erstens noch andere Erdölproduzenten als Russland, und zweitens andere Transportwege. Eine gesteigerte Nachfrage kommt bei Erdöl übrigens auch nicht in Frage für die Preissteigerungen. Die hohen Preise kommen auch hier wieder aus der Angebotsseite. Es gibt zu wenig Öl. Die Erdölproduzenten, allen voran die OPEC plus Russland, hatten sich 2020 aufgrund der Corona-Krise auf Förderreduktionen verständigt. Damals wurden Förderfelder stillgelegt und keine neuen Quellen mehr erschlossen. Die Nachfrage ist seitdem wieder gestiegen, nicht jedoch die Fördermengen. Über die Hintergründe können wir hier nur spekulieren. Mag sein dass sich einige Erdölproduzenten über die hohen Preise freuen und absichtlich wenig produzieren. Das ist möglich aber nicht unbedingt allzu wahrscheinlich, da es am Ölmarkt durchaus Konkurrenz gibt und jeder vor dem anderen den großen Profit einstreichen will. Eine andere Möglichkeit wäre, dass die Ölkonzerne dem Braten schlicht nicht trauen. Die Produktion zu steigern, neue Quellen zu erschließen, ist teuer. Dafür müsste die Nachfrage nach Öl auf längere Zeit steigen oder zumindest hoch sein. Was, wenn die Ölkonzerne eher von einer Rezession als von einer robusten Erholung ausgehen? Diese Erwartungshaltung müssen dabei übrigens nicht einmal die Ölkonzerne selbst haben. Es reicht, wenn ihre Kapitalgeber – das sind große Investmenthäuser, Banken und Fonds – skeptisch in die ökonomische Zukunft blicken. Sie werden den Ölkonzernen schlicht die Finanzierung für Expansionen verwehren oder diese drosseln. Das Embargo, das viele Staaten gegen Russland verhängt haben, dürfte nicht ursächlich sein, den Trend und die Panik jedoch verstärken. Die hohen Energiepreise wiederum drücken auf Wirtschaft, Wachstum und Vertrauen und verstärken die Rezessionsängst nochmals. Ökosteuern, Abgaben für erneuerbare Energien, CO2 Abgaben und ähnlicher Irrsinn, der – zufällig oder auch nicht – seit Jahren zundehmend auf unseren Energiepreisen lastet, dazu eine schwindelerregende Steuerquote, tragen ihr Übriges zur aktuellen Misere bei.

Rezessionsgefahr statt Überhitzung?

Die Zukunft kennen wir nicht. Was wir kennen, das sind die Erwartungen der Märkte an die Zukunft. Damit meinen wir nicht den kleinen Privatinvestor, sondern die großen Finanzakteure. Es reicht dafür ein Blick auf die Swapkurven, die alles andere als steil sind. Die Dollar-Swap-Kurve ist ab drei Jahren invers, die EUR-Swap-Kurve ist beunruhigend flach. Das klingt nicht nach bullishen Markterwartungen. Ganz im Gegenteil. Zinserhöhungen, die dem Markt das Geld entziehen, das er dringend benötigt, erscheinen in diesem Lichte immer absurder. Doch was ist nicht absurd in heutigen Zeiten?