Modern und alt zugleich ist die Frage, wer es in welcher Form verdient, am Erfolg eines Unternehmens beteiligt zu sein und die Richtung der weiteren Entwicklung mitbestimmen darf oder soll. In den vergangenen 50 Jahren war die vorherrschende Meinung der westlichen Welt stark geprägt von Milton Friedman, der den Aktionär und Unternehmer an erste Stelle setzte und die Ansicht vertrat, ein Unternehmen existiere in erster Linie dazu, monetäre Gewinne für den Eigentümer zu erzielen. Doch nach und nach bröckelt der Aktionärsfokus. Im Zuge der immer breiter werdenden ESG-Debatte kommen auch andere Stakeholder vermehrt in den Fokus, und auch populäre Ökonomen wie Joseph Stiglitz tragen mit ihrer Unterstützung des Stakeholder Gedankens zur Diskussion bei.

Der Stakeholder Gedanke ist nicht neu

Der Gedanke, dass neben dem Unternehmer auch andere Gruppen von Menschen und Organisationen für die Werthaltigkeit, den Erfolg und das Vorankommen eines Unternehmens von Bedeutung sind und diese entsprechend mit einbezogen werden sollten, ist nicht neu. Noch vor 100 Jahren galt der Stakeholder Gedanke als gängige Norm, die erst in den 1970er Jahren durch den Shareholder Fokus nach und nach verdrängt wurde. Wir sprechen hier also nicht von einer revolutionär neuen, noch nie erprobten Theorie, sondern der Rückkehr einer traditionellen Sichtweise auf das Unternehmertum, die der Meinung ist, dass die Einbeziehung aller Stakeholder, vom Aktionär über den Arbeiter und Angestellten, den Lieferanten, den Kunden bis hin zur Kommune und Gesellschaft von zentraler Bedeutung für den Erfolg eines Unternehmens ist.

Neu sind hingegen die Rahmenbedingungen

Die Idee des Stakeholder Gedankens mag also ein alter Hut sein. Regelrecht dramatisch verändert haben sich hingegen die Rahmenbedingungen, in denen sich Unternehmen heute bewegen. Sie agieren inmitten von Globalisierung, weltumspannendem Handel, global vernetzten Finanz- und Kapitalmärkten, Fortschritten in Kommunikation, Logistik und Finanzierung, bis hin zu völlig neuen Konzepten wie Blockchain, Krypto und künstlicher Intelligenz. Exchange Traded Funds sind heute die größten und wichtigsten Aktionäre vieler großer, börsengelisteter Gesellschaften. Eine handvoll riesiger Investmentbanken beherrscht die Finanzmärkte. Moderne Kommunikation, soziale Medien und das Internet haben das Thema Information, Transparenz und Kommunikation auf eine völlig neue Ebene gehoben. Geschäftsberichte finden sich mit einem Klick im Internet, Aktienkäufe und -verkäufe sind weltweit nur einen Mausklick entfernt, und Lob und Kritik passieren in Echtzeit. Die Lieferkette zieht sich nicht selten über ganze Kontinente hinweg, und der Skalierung sind scheinbar keine Grenzen gesetzt.

Die Wahrnehmung und Erwartung hat sich ebenfalls verändert

Mitarbeiter, Konsumenten, Lieferanten, Kunden und Mitglieder der Gesellschaft hinterfragen die herrschenden Systeme mehr und mehr. Das mag an einer vernetzteren Welt und einem leichteren Zugang zu Informationen und zu Kommunikation liegen. Die Erwartungen an das Leben haben sich gewandelt, die Gründe dafür sind vielschichtig. Deutlich zu sehen ist eine vielerorts vorherrschende, tiefe Unzufriedenheit mit dem gängigen System des Shareholder Fokus. Viele Menschen fühlen sich dadurch betrogen, dass Unternehmen ausschließlich die Gewinne für ihre Aktionäre im Blick haben und keine Rücksicht nehmen auf Wachstum, das Wohlergehen ihrer Arbeiter und Auftragnehmer, und sie fühlen sich vielfach ausgenutzt. Diese allgemeine Unzufriedenheit ist weltweit zu beobachten. In vielen Ländern verdienen Menschen mit ihrer Arbeit heute kaum genug um zu überleben, und die Löhne und Gehälter wachsen unterdurchschnittlich. Gleichzeitig steigen Steuern und Abgaben für normale Bürger, während die immer reicher werdenden, internationalen Konzerne schamlos Steueroptimierung betreiben. Doch auch Unternehmen fühlen sich unter Druck und sind mit dem herrschenden System unzufrieden. Zulieferer werden seit Jahren stark unter Druck gesetzt. Sie müssen immer günstiger produzieren, um weiterhin Aufträge zu erhalten. Verbraucher sind ebenfalls unzufrieden. Sie beklagen die mangelnde Qualität von Produkten. Sie fühlen sich verraten von Unternehmen, die qualitativ minderwertig produzieren und den Konsumenten damit nicht nur schnell kaputte Produkte verkaufen, sondern ihre Käufer nicht selten gravierenden Gesundheits- und Sicherheitsrisiken aussetzen und zu Umweltverschmutzung und Zerstörung der Ressourcen beitragen. Und all das nur, um den ohnehin schon wohlhabenden Aktionären weitere, satte Gewinne auszuschütten. Der Status-Quo ist unter Beschuss, und immer mehr Stimmen verlangen Veränderungen im System.

Kann der Stakeholder Gedanke die Antwort sein?

Unternehmen, die nicht nur ihre Aktionäre ernst nehmen, sondern auch andere Gruppen mit einbeziehen, die zum unternehmerischen Erfolg beitragen, handeln durchaus im eigenen Interesse. Schließlich ist es vielfach bewiesen, dass motivierte Arbeiter, die sich mit einem Unternehmen identifizieren, bessere Leistungen erbringen und durch ihre Loyalität auch mehr Stabilität sowohl in guten als auch in schlechten Zeiten. Um etwa die Gruppe der Arbeitnehmer ernst zu nehmen, bedarf es jedoch mehr als bloß eine gerechte Bezahlung. Es geht um Gespräche auf Augenhöhe, einander Ernst nehmen, gegenseitigen Rat annehmen und gemeinsam an schwierigen Situationen arbeiten, indem jeder die Position des anderen versteht. Ähnlich verhält es sich mit Zulieferern und Kunden, die durch transparente und faire Kommunikation deutlich stärker an das Unternehmen gebunden werden. Vor allem in Krisenzeiten werden Unternehmen die Früchte einer fairen und aufrechten Stakeholder Politik ernten, denn sie haben ein nachhaltigeres und stabileres Fundament geschaffen. Die Kehrseite der Medaille mag in einer trägeren und längeren Entscheidungsfindung liegen, einem Verzicht kurzfristig hoher Gewinne für Aktionäre zugunsten einer langfristigen Stabilität und einer verminderten Attraktivität des Unternehmens für rein kurzfristig auf Tradinggewinne ausgerichtete Investorengruppen.

Nicht leicht umzusetzen

Der Gedanke, Stakeholder Interessen ernst und wichtig zu nehmen und damit das Unternehmen langfristig solide und stabil aufzustellen, mag auf dem Papier schön und durchaus logisch klingen. Die praktische Umsetzung hingegen scheitert nicht selten an zwei banalen Dingen: Macht und Geld. Beide werden selten freiwillig an andere abgegeben. Jene Personen, die sich in Machtpositionen befinden, klammern sich an ihren Status und ihr Geld mit allen Mitteln. Die Geschichte ist voll mit Beispielen aus Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Die Welt ist übersät mit machthungrigen Diktatoren und Managern, die an ihrer Macht kleben, und die jeden, der sie herausfordert, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfen. Wie also kann der Übergang hin zu mehr Stakeholder Wertschätzung klappen?

Möglichkeiten zur Umsetzung

Insgesamt dürften drei verschiedene Möglichkeiten in Betracht kommen, wie eine Umsetzung des Stakeholder Gedankens klappen könnte:

  1. Freiwillige Richtlinien und Empfehlungen, an die sich Unternehmen halten, und die mithilfe freiwilliger Transparenz von allen Stakeholdern und der Öffentlichkeit beobachtet und überprüft werden kann.
  2. Positive Anreize, etwa durch Steuererleichterungen.
  3. Verbindliche, gesetzliche Vorgaben.

Welche Maßnahmen wirken und ob bereits freiwillige Richtlinien ausreichen, dürfte auch von gesellschaftlichen und länderspezifischen Besonderheiten abhängen. In England sind freiwillige Richtlinien etwa häufiger anzutreffen als in Deutschland, wo alle gesetzlich bis ins kleinste Detail geregelt ist. Wobei Deutschland ein sehr gutes Beispiel dafür ist, wie der Stakeholder Gedanke in Bezug auf Arbeitnehmer gut funktionieren kann. Die Bildung von Betriebsräten und die Mitbestimmung im Aufsichtsrat von Kapitalgesellschaften ist in Deutschland seit Jahrzehnten gesetzlich verankert und hat sich als stabile Grundlage für die Entwicklung einer nachhaltigen Einbeziehung von Arbeitnehmern in betriebliche Prozesse erwiesen, die in Deutschland heute kaum jemand missen möchte.