Im März hatten wir uns bereits mit dem zentralen, digitalen Zentralbankgeld befasst. Heute geht es um die Gegenbewegung: Das dezentrale Finanzsystem, oder wie es im Englischen bezeichnet wird, Decentralized Finance. Die Idee dahinter reicht viel weiter als bloß bis Bitcoin. Decentralized Finance würde, falls umgesetzt, unser gesamtes, bisheriges Finanz- und Geldsystem komplett auf den Kopf stellen, die Karten von Macht und Einfluss gänzlich neu mischen und damit jenseits aller bisherigen Schranken arbeiten. Eine reine Utopie? Möglicherweise. Technisch möglich? Absolut!

Das bisherige Finanzsystem hat viele Kritiker

Das heutige, großteils virtuelle Finanzsystem aus Geld, Wertpapieren, Derivaten, Rohstoffhandel und Währungsgeschäften mag weltumspannend tätig sein. Kontrolliert und gesteuert wird es trotzdem durch eine überschaubare Hand aus großen Zentralbanken, globalen Finanzinstituten, einigen wichtigen Regierungen und multinationalen Organisationen, und all das aus einem kleinen, feinen Kreis an Finanzzentren. Was in London, New York oder Tokyo beschlossen wird, hat Auswirkungen auf die gesamt (Finanz)welt. Zufälligerweise ist auch genau in den Ländern, in denen diese Finanzzentren sind, ein überwiegender Großteil des globalen Vermögens an Geld- und Wertpapieren zu Hause. Alles nur Zufall?

Milliarden Menschen derzeit ohne Zugang zum Bankensystem

Auf der anderen Seite leben nach wie vor geschätzt eine Milliarde Menschen ohne eine Chance auf ein Bankkonto und eine weitere Milliarde ist geschätzt unterversorgt durch das Bankensystem. Hinzu kommen oft ausgesprochen hohe Transaktionskosten, vor allem für die „Kleinen“. Je geringer das Vermögen, je kleiner das Unternehmen, desto höher sind im Vergleich die Gebühren, die bezahlt werden müssen. Am Härtesten trifft es im Ausland lebende Geringverdiener, die Geld in ihr Heimatland überweisen, und dafür Gebühren nicht selten 10% oder mehr ihres ohnehin geringen Lohnes bezahlen. Am anderen Ende der Liste sind multinationale Konzerne, die für ihre Transaktionen an den Kapital- und Finanzmärkten kaum zur Kasse gebeten werden.

Vertrauen in bisheriges System ist gering

Zudem ist das Vertrauen weltweit in Banken, Broker, Versicherungen und sogar das nationale Geldsystem nicht überwiegend groß. Korruption, Manipulation, politische Einflussnahme, Bankenpleiten, Hyperinflation, plötzliche Währungsbeschränkungen, Sanktionen, Restriktionen und vieles mehr treffen meist die Kleinen mit aller Härte, aber auch größere Unternehmen sind davor nicht sicher.

Die Antwort vieler Regierungen und die von den aktuell mächtigen Banken und Reichen bevorzugte Lösung auf die bisherigen Probleme ist die globale, totale Zentralisierung in Form digitalen, direkten Zentralbankgeldes. Was aber, wenn das digitale Zeitalter letztendlich die Befreiung von bisherigen Machtstrukturen anstatt deren Zementierung bringen könnte?

Technisch ist ein dezentrales Finanz- und Geldsystem bereits möglich

Die technischen Voraussetzungen für ein globales und gleichzeitig dezentrales Geld- und Finanzsystem, das gleichzeitig von niemandem und von allen gestaltet, kontrolliert, betrieben und überwacht wird, sind schon heute gegeben. Die Welt ist über das Internet vernetzt. Bis in die letzten Winkel der Welt haben Smartphones und Computer Einzug gehalten. Spätestens aber seit der Entwicklung der Blockchain Technologie steht einem globalen Ledger für sämtliche Transaktionen nichts mehr im Wege. Auf Open-Source Basis programmiert, könnte eine dezentrale Plattform, die allen und niemandem gehört, alles vom Zahlungsverkehr über Wertpapierhandel, Abwicklung, Buchung, Transaktionen für Assets wie Immobilien, Kunst, Land, Rohstoffe, Patente und jegliche nur erdenkliche Zahlung oder Eigentumsübertragung abbilden. Ohne Intermediär, ohne hohe Transaktionskosten, ohne Sicherheitsbedenken, und zwar weltweit und grenzenlos. Kryptowährungen sind davon nur der Anfang.

Blockchains würden viele Akteure überflüssig machen

Nun wäre ein solches System tatsächlich eine komplette Revolution. Auf einen Schlag würden wir keine Banken mehr benötigen, keine Börsen, keine Broker, keine Aufbewahrungsstellen, keine Abwicklungsbanken, keine Zentralbanken, keine nationalen Behörden, womöglich auch keine Aufsichtsbehörden. Wahrscheinlich würden sich einige Dienstleister wie Fondsmanager, Ratingagenturen und Research Anbieter weiterhin mit ihren Services halten, auch Family Offices und Beratungsdienstleister. Viele der ganz Mächtigen hingegen würden ihren Einfluss auf ein System verlieren, von dem sie bisher massiv profitieren konnten. Allein die Idee des zentralisierten Geld- und Finanzsystems birgt deshalb viel Sprengkraft.

Egalitäres, gleichberechtigtes System mit Zugang für jede und jeden überall

Abgesehen von den Interessen heute mächtiger Finanzhäuser, Zentralbanken und Regierungen wäre ein funktionierendes, dezentrales Geld- und Finanzsystem für alle anderen durchaus ein Gewinn. Ob kleiner Staat, Unternehmen groß und klein, Selbstständiger, Investor, jeder, der Geld sucht oder anlegen möchte, ob Landwirt, Händler oder Konsument, sie alle könnten von einem dezentralen Finanzsystem profitieren. Niemand könnte aus welchen Gründen auch immer ausgeschlossen werden, wobei diese Gründe im bisherigen System von zu arm bis politisch unerwünscht reichen. Zudem könnte sich jeder jederzeit von überall auf der Welt mit dem dezentralen Geld- und Finanzsystem verbinden und wäre nicht von einer physischen Filiale oder einer Geschäftsbeziehung der „richtigen“ Bank abhängig. Durch die Funktionsweise der Blockchain wären alle Daten nicht mehr zentral gespeichert, sondern simultan auf tausenden Rechnern gleichzeitg, um die Daten- und Transaktionssicherheit zu gewährleisten. Das System an sich wäre auch ständig erweiterbar durch neuen Programmiercode, um Kunden alle nur erdenklichen Erweiterungen und neuen Services anzubieten. Es könnte problemlos Bruchbesitz geben, also das Eigentum etwa an einem Bruchteil wie zum Beispiel 1/10 einer Aktie. All das wäre gesichert durch den ganz eigenen, privaten Schlüssel. Die Möglichkeiten sind überwältigend.

Die Sache mit der Transparenz

Nun liegt es in der Natur einer Blockchain, dass sämtliche Transaktionen transparent und nachvollziehbar sind. Das dürfte nicht allen Marktteilnehmern besonders Recht sein. Verbindungen, Reichtümer und Transaktionen könnten nachvollzogen werden. Auch das könnte ein Grund sein, warum die Großen und Mächtigen nicht Feuer und Flamme für ein dezentrales Finanzsystem sind. Warum, dazu müssen wir wohl keine weiteren Ausführungen machen, wofür der Platz in dieser Kolumne zudem nicht ausreichen dürfte.

Die dezentrale Geld- und Finanzwelt: Technisch möglich

Sie ist technisch möglich, würde für 99,9% der Menschen nur Vorteile bringen und könnte unser komplettes Finanz- und Geldsystem völlig revolutionieren. Wir sind an einem Punkt des technischen Fortschritts angekommen, der es ermöglichen würde, ohne Gatekeeper Zugang zu Transaktionen wie Zahlungen, Wertpapierkäufe, Wertpapieremissionen, Grundstücksübertragungen, Absicherungsgeschäfte, Immobilientransaktionen, Kapitalanlage, Kreditvergabe und anderen Transaktionen zu haben. Die Zukunft könnte durchaus spannend aussehen. Oder eben auch nicht, je nachdem, welchen Weg die Welt einschlägt. Schließlich hat jede große Neuerung starke Gegner unter jenen, die dadurch ihre Felle weg schwimmen sieht, und die alles daran setzen werden, die Entwicklung zu ihren Gunsten zu lenken. Wir beobachten gespannt was kommen wird. Als Risikomanager haben wir selbstverständlich Pläne für beide Wege in der Tasche. Sprechen Sie uns an!