Ist Zentrales Clearing gefährlich?

Zentrales Clearing durch spezialisierte Clearinghäuser wird in der Literatur gerne als Loslösung vom Ausfallrisiko einer Gegenpartei gepriesen. Die Zentrale Gegenpartei tritt als Gegenpartei in alle Geschäfte ein und übernimmt das Risikomanagement, indem sie entsprechende Margins (Sicherheiten, in der Regel in Form von Bargeld) berechnet und einfordert, die im Fall des Falles verwertet werden, um alle anderen Marktteilnehmer schadlos zu halten. Aber ist das Risiko dadurch wirklich weg? Immer mehr Stimmen mahnen, dass Clearinghäuser ein immer höheres, systemisches Risiko bergen, und das Ausfallrisiko letztendlich auf eine kleine Gruppe systemrelevanter Banken konzentriert wird.

Zentrales Clearing von OTC-Derivaten: Ein Ergebnis der Finanzkrise 2008

Vor ziemtlich genau zehn Jahren herrschte Chaos. Schockstarre. Panik. Ungläubig sahen Marktteilnehmer zu, wie die große und namhafte Investment Lehman Brothers im September 2008 einfach mal so Pleite ging. Lehman war ein wichtiger Interbank Dealer im außerbörslichen Handel mit Zinsderivaten, Währungsderivaten und Kreditderivaten, die ihrerseits wieder den Großteil des Derivatemarktes ausmachen.  Einen Tag nachdem Lehman Brothers am 15. September Chapter 11 beantragt hatte, musste die US-amerikanische Mega-Versicherung AIG mit 85 Milliarden US-Dollar von der US-Regierung gerettet werden. AIG war damals einer der größten Verkäufer von Credit Default Swaps und damit ebenfalls ein Schwergewicht im globalen, außerbörslichen Derivatemarkt. Gleich zwei wichtige Marktteilnehmer in einer Woche, das rief bei vielen Bankern, Risikomanagern und Aufsichtsbehörden Panik hervor.

Das OTC-Geschäft war auch vorher schon besichert

Derivate können mitunter stark im Wert schwanken, und dank ihrer Hebelwirkung kann ihr Wert rasch überproportional nach oben oder unten schnellen. Je nach Laufzeit und Art des Geschäfts ist man zudem lange an einen Geschäftspartner gebunden. Das bedeutet unter Umständen ein hohes Kreditrisiko gegenüber den Gegenparteien in Derivate-Trades. Dass das Ausfallrisiko neben dem Management des Marktrisikos ein zentrales Element im Derivatehandel sein muss, war allen Marktteilnehmern auch vor der Pleite von Lehman Brothers und dem Super-Bailout von AIG bekannt. Entsprechend sorgfältig wurden Derivategeschäfte schon damals besichert. In der Regel wurde mit Cash besichert, manchmal auch mit Wertpapieren, dann mit einem entsprechend hohen Haircut und zusätzlichen Credit Default Swaps und CVA (Credit Valuation Adjustments). Im Interbanken Handel und unter den großen Derivate-Nutzern war eine tägliche Wertstellung der Sicherheiten schon einige Zeit üblich. Zusätzlich wurden sogenannte „Break Clauses“ in Verträge integriert, die es erlauben, Geschäfte zu festgelegten Zeitpunkten zum Marktpreis aufzulösen.

Es mangelte an Transparenz. Das schaffte Unsicherheit.

An Sicherheiten mangelte es dann auch gegenüber Lehman, AIG und den anderen in Probleme geratenen Unternehmen nicht. Wo es hakte war die zügige Abwicklung, und – nicht zu unterschätzen – eine riesige Unsicherheit unter den Marktteilnehmern. Schließlich war das bisherige System völlig intransparent, und niemand wusste, wer gegenüber wem mit wieviel ungedecktem Risiko da stand und eventuell als nächster mit ins Verderben gezogen werden konnte. Wem konnte man noch trauen? Mit wem konnte man noch Geschäfte machen? Die Unsicherheit und das Misstrauen wurden so extrem, dass es Tage gab, an denen kaum jemand einem anderen noch Geld geben wollte, weder besichert und schon gar nicht unbesichert. Mit Schweißperlen auf der Stirn saßen Liquiditätsmanager an ihren Handelstischen und wussten nicht, wie sie den Tag und die kommende Nacht überstehen sollten.

Nach und nach glätteten sich die Wogen, die Gemüter beruhigten sich und der Derivatemarkt kam wieder einigermaßen ins Laufen. Was blieb war allerdings die Erkenntnis, dass der außerbörsliche Markt für Zins-, Währungs- und Kreditderivate in seiner intransparenten, bilateralen Form erhebliche Unsicherheiten, Unbekannte und damit Systemrisiken barg. Schließlich wusste niemand wer gegenüber wem mit wie viel und worin exponiert war und ob das Risiko auch korrekt berechnet, gemanagt und besichert wurde. Es gab weder verlässliche Handelszahlen noch Statistiken über Volumen, Risiken und Marktkonzentration.

Dodd-Frank und EMIR zwingen Derivate ins Zentrale Clearing

Das Ergebnis waren neue Gesetze und Verordnungen, die seit einigen Jahren dafür sorgen, dass die meisten außerbörslichen Derivate über ein Clearinghaus zentral abgewickelt werden. In Europa regelt die Verordnung EMIR (European Market Infrastructure Regulation) den Handel und die Abwicklung von außerbörslich gehandelten Derivaten. Das Pendant dazu in den USA ist im Dodd-Frank Act enthalten.

Zentrales Clearing: Clearinghaus, Clearing Member und ihre Kunden

Zentrales Clearing läuft folgendermaßen ab: Es gibt ein spezialisiertes Clearinghouse, also ein Unternehmen, das eigens dafür geschaffen wurde. Die größten Clearinghäuser für OTC Derivate im Zins-, Währungs- und Kreditderivate Markt sind CME Group Inc., Intercontinental Exchange Inc. und LCH.Clearnet Group Ltd. Das Clearinghaus registriert sogenannte Clearing Mitglieder (Clearing Members), in der Regel große Banken, die strenge Auflagen erfüllen müssen, um überhaupt als Clearing Member zugelassen zu werden. Sie führen beim Clearinghaus ein Konto für sich selbst und viele, viele Unterkonten für alle anderen Marktteilnehmer, für die sie – gegen Gebühr – als Clearingmember fungieren. Das Clearinghaus tritt nun in alle Geschäfte, die abgeschlossen wurden, als Zentrale Gegenpartei ein, sodass jeder Marktteilnehmer nur noch Derivate mit dem Clearinghaus auf den Büchern hat.

Für das genettete Risiko hinterlegt jeder Marktteilnehmer entweder direkt oder über das für ihn zuständige Clearing Member Sicherheiten in Form von Cash oder Wertpapieren. Da sich Derivate täglich im Wert verändern, und die gestellten Sicherheiten im Zweifelsfall möglicherweise einmal nicht ausreichen könnten, gibt es als zusätzlichen Sicherheitspuffer einen Ausgleichsfonds, in den alle Clearing Mitglieder einen Beitrag einzahlen. Sollte das Geld aus diesem Pool ebenfalls nicht ausreichen, müssen alle Direkten Clearinghaus Mitglieder einspringen, und zwar theoretisch mit ihrem gesamten Vermögen. Und hier beginnt die Sache haarig zu werden.

Die neue Konzentration im Markt

Durch den Clearingzwang hat sich das Volumen, das von Clearinghäusern gemangt wird, in kurzer Zeit vervielfacht. Da das Clearing von Zins-, Währungs- und Kreditderivaten doch einigermaßen komplex ist, bedarf es Spezialisten, und somit ist die Anzahl der Clearinghäuser ausgesprochen überschaubar. Ebenfalls überschaubar ist die Zahl der global im Derivatemarkt führend aktiven Banken und Broker. Denn auch der Interbanken Handel mit Derivaten ist komplex, teuer und bedarf einer gigantischen Infrastruktur aus Systemen, Experten und Volumen. Da bleiben weltweit gerade einmal etwa 20 große Banken übrig, die sich 90% des Geschäfts untereinander aufteilen, und davon wiederum gibt es vier bis fünf wirklich große Investmentbanken. Genau diese großen Banken aber sind es, die in so gut wie allen Clearinghäusern die wichtigen Mitglieder sind. So sieht Konzentration aus. Was aber, wenn eine dieser großen Banken ins Strudeln gerät und ausfällt? Was, wenn danach ein großes Clearinghaus mit umfällt? Durch die Verflechtungen untereinander gerät das gesamte System ins Ungleichgewicht, und ein Dominoeffekt ist nicht komplett unmöglich.

Weitere Gefahren: Mispricing, Risikokonzentration und zu geringe Kapitalisierung

Derivate sind nicht einfach zu bewerten. Häufig hängen Preise von Modellen ab, und möglicherweise bewerten Clearinghäuser viele Produkte nicht korrekt. Das kann unabsichtlich geschehen, weil die Expertise fehlt und sich ein Clearinghaus auf veraltete oder unvollständige Modelle verlässt, oder auch absichtlich, um Marktanteile gegenüber Konkurrenten zu gewinnen. Ein weiteres Risiko ist, dass plötzlich ein wahrlich unverstellbar großes Risiko nicht mehr weitflächig im Markt zwischen einer Vielzahl an Kontrahenten verteilt ist, sondern sehr konzentriert auf nur wenige Zentrale Gegenparteien gebündelt ist. Wird dieses Risiko auch korrekt gemanagt? Doch noch wichtiger ist die Frage der Kapitalisierung von Clearinghäusern. Die Reservefonds sind nach Meinung der Vorstände namhafter, großer Banken nicht annähernd groß genug, um den Ausfall einer großen Gegenpartei aufzufangen.

Systemrisiko durch Clearinghäuser?

Noch wurde die Robustheit des neuen Systems aus zentral abgewickelten, außerbörslich gehandelten Derivaten nicht getestet. Doch die nächste Krise kommt bestimmt. Die großen Clearing Mitglieder befürchten, durch ihre Haftung mit in einen Strudel gezogen zu werden und fordern deshalb eine höhere Kapitalisierung von Clearinghäusern sowie ein besseres Risikomanagement. Dafür müssten Gesetze und Vorschriften geändert werden. Die Clearinghäuser selbst sehen die Sache anders. Sie fühlen sich gut aufgestellt und sind überzeugt, eine wichtige Funktion im Risikomanagement zu erfüllen. Nicht zu vernachlässigen ist zudem die deutlich bessere Datenlage, die das zentrale Clearing dem Markt und den Aufsichtsbehörden beschert hat, und die möglicherweise schon frühzeitig auf Schwachstellen hinweisen kann. Die hohe Marktkonzentration bedeutet in jedem Fall ein gewisses Systemrisiko, das die Aufsichtsbehörden und Marktteilnehmer im Auge behalten werden.