Sie war über viele Jahrzehnte der goldene Standard der privaten Altersvorsorge und ein Garant für finanzielle Unabhängigkeit. Die 4% Regel wurde von William Bengen in den 1990er Jahren geprägt und besagt, dass ein Rentner jedes Jahr 4% seines Vermögens entnehmen kann um es zu verzehren, und trotzdem bis an sein Lebensende ausreichend Kapital haben sollte. Diese Aussage beruht auf Berechnungen historischer Renditen des U.S.-Kapitalmarktes, historischen Inflationszahlen und einer Lebenserwartung von 30 Jahren ab Rentenantritt.
Das sogenannte Bengen-Portfolio besteht aus Aktien und Anleihen, wobei in den letzten Jahren der Aktienanteil stetig gewachsen ist. Im Grundmodell besteht das Portfolio aus den typischen 50% Aktien und 50% sicheren Rentenpapieren wie Staatsanleihen von Staaten guter Bonität wie den U.S.A. oder Deutschland. Da sich die Renditen genau dieser Staatsanleihen seit geraumer Zeit um die Null Prozent bis hin zu negativer Rendite bewegen, ist ein gemischtes Portfolio aus risikoarmen und risikoreicheren Wertpapieren heute nicht mehr geeignet, die für so manche Strategie nötige Performance zu erzielen.
Die 4% Regel der Altersvorsorge ist damit heute als Nebeneffekt der Niedrigzinspolitik und der Politik der billigen Geldschwemme ganz nebenbei zum Auslaufmodell geworden und trifft damit – ebenfalls ganz nebenbei – Sparer und Rentenversicherer. Denn auch Versorgungswerke und Lebensversicherungen rechnen mit ähnlichen Modellen, wenn auch etwas komplexere Annahmen, Algorithmen und Berechnungen zugrunde liegen. Auch die Berechnungen der Aktuare legen gewisse Verzinsungen zugrunde, eine bestimmte Inflation, die entsprechende Lebenserwartung und das Abschmelzen des eingezahlten Vermögens über die Restlaufzeit einer Rente. Das mögen nun nicht 4% sein, allerdings enthalten auch die Rentenmodelle in ihren Rentenzusagen und der Prognose der Rentenhöhe einen Wert für die Abschmelzung.
Privatanleger und Anlageberater ohne Zugang zu den komplexen Modellen der Aktuare waren in der Vergangenheit mit der 4% Regel ganz zufrieden gewesen. Sie hatte ihnen gute Dienste erwiesen und sich als relativ einfacher Verkaufsschlager erwiesen. Nun gut, werden Kritiker einwenden, die 4% Regel ist eine viel zu vereinfachende Regel, die ohnedies nicht auf jedes Land der Welt und jeden Menschen anwendbar ist und viele historische Annahmen trifft. Dennoch hat sie – wohl auch aufgrund ihrer einfach verständlichen Faustregel – ein hohes Maß an Popularität erreicht. Viel schwerer als die vereinfachenden Annahmen wiegt allerdings die Tatsache, dass die 4% Regel in einer Zeit entwickelt wurde, als die Zinsen am kurzen Ende für 3-Monats-Treasury Bills bei etwa 6% lagen. Damals war es noch einfach, mit einer soliden Mischung aus Anleihen und Aktien auf eine dauerhaft hohe Rendite zu kommen. Die Menschen damals hatten vielleicht einfach Glück.
Heute sieht das alles deutlich trauriger aus. Sparen lohnt nicht. Immobilien sind zur Mangelware geworden oder werden am Bedarf vorbei entwickelt. Verzweifelte Anleger stecken Gelder in riskante Unternehmen und erhalten für ihr Risiko kaum noch ausreichend Kompensation. Die so oft zitierte, wichtige Altersvorsorge blickt einer ungewissen und ärmlichen Zukunft entgegen. Anleger, die sich auf 4% Entnahmen ihres angesparten Vermögens gefreut haben, sollten sich darauf vorbereiten, den Gürtel einmal enger schnallen zu müssen. Denn ohne Rendite kein Zinseszinseffekt kein Vermögensaufbau keine Reserven keine Zinseinnahmen keine Erträge keine Rente kein gehobener Lebensstandard kein Luxus.
Die Suche nach einer neuen Regel für die Versorgung im Alter mit ausreichend finanziellen Mitteln hat begonnen. Und sie heißt nicht mehr die 4% Regel. Entspart werden wir heute schon vor dem Eintritt in die Rente ganz automatisch über negative Renditen und einen immer mehr negativen Zinseszinseffekt.