Blickt man in Lehrbücher zu Unternehmensbewertung, Kostenrechnung, Risikomanagement und Finanzinstrumente, möchte man meinen, die normale Welt der Finanzmathematik ist ziemlich einfach. Schließlich geht es in den meisten Fällen schlicht um ein Aufzinsen auf einen Future Value oder ein Abzinsen auf den Barwert, meist mit dem sogenannten „risikolosen Zinssatz“. Doch seit Jahren steht die Welt der Bewertungsmodelle Kopf. Es geht dabei um zwei zentrale Fragen:

  1. Was ist der risikolose Zinssatz?
  2. Was mache ich mit einem Zins von Null oder einem negativen Zins?

Rechnen mit Null und negativen Zahlen?

In der Assetbewertung macht es – das sieht jeder ein – wenig Sinn, mit einem Zins von Null zu multiplizieren. Eine Division durch Null? Nicht definiert. Der Logarithmus einer Negativen Zahl? Ebenfalls nicht definiert. Würde man die heutigen Zinssätze für Euribor, €STR, CHF Libor oder JPY Libor in die meisten Lehrbuchmodelle für Bewertungen einfügen, das Ergebnis wäre unsinnig oder nicht definiert. Die Welt der Bewertungsmodelle steckt in der Krise. Manche helfen sich dadurch, dass sie die Zinskurve einfach „shiften“, also parallel um die passenden Basispunkte nach oben verschieben, wie Shifted SABR und Shifted Black Modelle. Die Höhe dieser Verschiebung wird nach und nach immer höher. Die zu Beginn der Negativphase in 2012 gewählten 50 Basispunkte in Euro reichen heute nicht mehr aus. Andere Modelle schwenken auf eine veränderte Verteilungsfunktion, die nicht auf den natürlichen Logarithmus angewiesen ist und auch negative Zahlen abbilden kann, wie Black-Like Modelle. Alles in Allem sind das aber meist nur Notlösungen, die für eine ursprünglich nur vorübergehend erwartete Schieflage der Zinsmärkte Verwendung finden sollte. Dass die nun seit bald einem Jahrzehnt andauernde Niedrigzinsphase nicht so schnell vorüber sein dürfte, haben mittlerweile die meisten Marktteilnehmer eingesehen.

Falsche Signale werden ausgesendet

Nicht nur die reine Bewertung einzelner Assets und Verbindlichkeiten verliert an Aussagekraft, auch die relative Betrachtung von Märkten wird schwieriger und Signale werden teilweise falsch ausgesendet. Für Investoren etwa ist es wichtig, Renditevergleiche zwischen verschiedenen Asset Märkten zu betrachten und entsprechend Entscheidungen für die Allokation von Kapital zu treffen. Doch Zinsen bei Null verzerren die Berechnung von KGVs und damit die Wahl zwischen Aktien und Anleihen. Doch nicht nur dort. Lohnt es sich, den Gold Future heute zu kaufen, oder Gold Spot? Die gängigen Bewertungsmodelle blicken dabei ausschließlich auf den Zinssatz, der die Entscheidung zugunsten Spot oder Future fällt. Doch was, wenn dieser Zins null oder negativ ist?

Erhebliche P&L Verwerfungen

Auch für die Verbuchung von Gewinnen und Verlusten in Portfolien und Handelsbüchern ist die Null- und vor allem Negativzinslandschaft ein großes Problem. Gut zu sehen war das ab dem Jahr 2009, als große Banken nach und nach anfingen, ihre Derivatebücher mit EONIA zu diskontieren anstatt Euribor. EONIA lag tiefer als Euribor, und je nach Positionierung der Portfolien kam es zu gigantischen Verwerfungen im dreistelligen Millionenbereich selbst bei mittelgroßen Banken. Die nächste Verwerfung kam nach 2012, als EONIA negativ wurde, was Auswirkungen auf die Collateral-Verzinsung hatte. Wurde früher gepostetes Collateral verzinst, kostet es seither Geld, Sicherheiten zu hinterlegen. Auch das führt zu Verwerfungen in Portfolien und entspricht nicht mehr dem Rational des Collateralgedankens. Völlig verkehrt dreht sich die Welt der Zinsswaps. Zu Beginn waren nur die Euribors negativ, was zur Folge hatte, dass man im Zahlerswap plötzlich nicht nur die fixe Seite sondern auch die variable Seite zahlen musste. Doch seitdem so gut wie alle Laufzeiten der Swapkurve negativ sind, muss man im Zahlerswap die fixe Seite nicht mehr zahlen sondern empfängt sie, und die variable Seite muss man nun bezahlen. Eine verkehrte Welt.

Die Frage nach dem „richtigen“ risikolosen Zins

Was ist Risiko, und wer hat den risikolosen Zinssatz? Das ist eine Frage, die seit geraumer Zeit gestellt wird, und auf die es keine eindeutige Antwort gibt. Bis vor der Finanzmarktkrise und dem Libor Skandal galten die Libor Sätze als die risikolosen Zinssätze der Wahl, wenn es um das Abzinsen und Aufzinsen in sämtlichen gängigen Bewertungsmodellen ging. Unternehmensbewertungen, Barwerte, Future Values, Zinsderivate, Aktienoptionen, Futures und Forwards, jedes nur erdenkliche Asset, jede Verbindlichkeit und alle Derivate wurden fast ausschließlich mit Libor & Co berechnet. In vielen Fällen wird das auch weiter so gehandhabt, auch wenn sich alle mittlerweile einig darin sind, dass Libor & Co nicht risikolos sind. Als mögliche Ersatzkandidaten dienen Staatsanleihenrenditen von Staaten allerbester Bonität, wie U.S.A., Kanada oder Deutschland. Weitere vor allem von Aufsichtsseite stark beworbene Zinssätze sind die meist auf Basis von Repo und Geldmarktgeschäften basierten, neuen Overnight-Sätze wie €STR, SONIA, SOFR & Co. Doch das Abzinsen und Aufzinsen mit Overnight Rates passt nicht in jedes Modell, und zusätzlich sind sie noch tiefer als alle anderen Sätze. Ob es überhaupt so etwas wie risikolose Zinsen gibt, und ob sie zudem überhaupt geeignet wären, risikobehaftete Assets und Liabilitites zu bewerten, dazu gibt es noch keinen gemeinsamen Konsens im Finanzmarkt.

Neue Wege müssen gefunden werden

Fest steht, dass die veränderte Zins- und Risikowelt, in der wir uns möglicherweise langfristig bis dauerhaft befinden, neue Wege erfordert. Bewertungsmodelle und Bewertungskonzepte müssen neu erdacht werden. Die Unternehmensbewertung und die Bewertung von Risikopositionen darf nicht mehr nur durch Auf- und Abzinsen mit „dem risikolosen Zinssatz“ erfolgen, und auch die Entscheidung zwischen verschiedenen Assetmärkten erfordert neue Ansätze. Die Ökonomie darf sich nicht mehr ausruhen auf alten Modellen, die zwischen 1930 und 1970 entwickelt wurden, und es darf der Mut nicht fehlen, auch kritische Fragen zu Bewertungsansätzen und Modellhintergründen zu stellen.