Die Zinswelt steht vor einem großen Umbruch. Die LIBOR Sätze sollen bald abgeschafft und durch risikolosere Overnight Rates ersetzt werden. Dabei geht es aber nicht einfach um den Austausch eines Referenzzinses gegen einen anderen, ähnlichen Referenzsatz. Es geht um eine ganz gravierende Änderung, denn die neuen Sätze, die von den Aufsichtsbehörden bevorzugt werden, haben grundlegend andere Eigenschaften.
Die neuen Referenzzinsen basieren auf der Vergangenheit
Geht es nach den Aufsichtsbehörden der wichtigsten LIBOR Länder, soll der USD-LIBOR durch den SOFR (Secured overnight funding rate) ersetzt werden, der GBP-LIBOR soll dem SONIA (Sterling overnight index average) weichen, die Schweizer wollen künftig den SARON (Swiss average rate overnight) verwenden und in Japan soll es den TONA (Tokyo Overnight average rate) geben. Der EURIBOR hingegen soll vorerst erhalten werden, der EONIA allerdings durch den €STR (Euro short-term rate) ersetzt werden. Die Art der Berechnung und die zugrundeliegenden Basisgeschäfte sind von Zins zu Zins unterschiedlich. Doch alle neuen Referenzsätze haben eines gemeinsam: Sie basieren auf Overnight-Geschäften des jeweiligen Vortages, blicken damit also auf die – wenn auch kurze – Vergangenheit. Die LIBOR Sätze aber sind sogenannte Term-Rates, die auf die Zukunft blicken. Sie geben den Preis für Geld an, der für die kommenden Wochen oder Monate bezahlt werden muss. Sie werden am Beginn einer Zinsperiode festgesetzt. Damit sind sie auf die zukünftigen Erwartungen an Inflation und damit die Zinsentwicklung gebunden. Ein riesiger Unterschied zu den vergangenheitsbezogenen, neuen Overnight Sätzen!
Aus Overnight Rates Term Rates berechnen
Für viele Finanzprodukte ist eine tägliche Abrechnung des Zinssatzes nicht vorgesehen oder nicht praktikabel. Zudem hat sich der Markt seit vielen Jahrzehnten daran gewöhnt, Zinsen am Beginn einer Zinsperiode festzuschreiben („Fixing in advance“) und nicht erst am Ende („Fixing in arrears“). Die große Frage ist deshalb, wie aus den täglichen, auf die Vergangenheit bezogenen Overnight Sätzen brauchbare Term Rates berechnet werden können. Dazu gibt es zwei Vorschläge:
- Die Verzinsung über die gesamte Zinsperiode hinweg, täglich hochgezinst mit dem Overnight-Satz. Der Nachteil ist, dass der Zinssatz erst am Ende der Zinsperiode feststeht („Fixing in arrears).
- Eine Forward-Kurve dieser aus Vorschlag 1.) hochgezinsten Overnight-Sätze, sozusagen die Erwartung des Marktes für verschiedene Laufzeiten aus akkumulierten Overnight-Sätzen. Vorteil wäre, dass diese Forwards am Beginn einer Zinsperiode feststehen könnten („Fixing in advance“), allerdings nicht auf tatsächlichen Geschäftsdaten basieren würden.
Libor Market Modell kann durch Forward Market Modell ersetzt werden
Für die Bewertung und Modellierung von Zinsderivaten und Zinsstrukturen wird häufig das Libor Market Modell (LMM) eingesetzt. Für die Modellierung von Forward Rates, die aus vergangenheitsbezogenen, aufgezinsten Overnight Rates berechnet werden, ist das LMM allerdings nicht gut geeignet. Eine Erweiterung des Libor Market Modells wird damit nötig. Für den Vorschlag, das Libor Market Modell durch entsprechende Forward Rates aus den aufgezinsten Overnight Rates zu ergänzen, haben Fabio Mercurio und Andrei Lyashenko zu Beginn des Jahres 2020 den „Quant of the Year“ Preis verliehen bekommen. Sie nennen ihr erweitertes Modell das „Forward Market Modell„. Sie argumentieren auch, dass die neuen Overnight Sätze in mancherlei Hinsicht sogar besser für die Modellierung komplexer Zinsderivate geeignet sind, als die bisherigen LIBOR Sätze, und das FMM Modell relativ einfach als Ergänzung zum LMM implementiert werden kann.
Der Credit Spread ist damit nicht ausgeglichen
Das Modell von Mercurio und Lyashenko mag die Modellierung auf die neuen Overnight-Rates anpassen. Was trotzdem noch bleibt ist der Unterschied im Credit Spread zwischen den bisherigen LIBOR Sätzen und den risikoloseren Overnight Rates. Schließlich handelt es sich beim LIBOR per Definition um die Kosten von Geld zwischen Banken für bestimmte Laufzeiten. Die Overnight Sätze hingegen sind deutlich risikolosere oder sogar besicherte Zinssätze, denen der entsprechende Banken-Credit-Spread fehlt.
Modellierung einen großen Schritt weiter
Durch die Veröffentlichung von Mercurio und Lyashenko ist die Umstellung der Modellierung von Zinsderivaten einen großen Schritt voran gekommen. Doch noch steht den Marktteilnehmern viel Arbeit bevor, denn interne Modelle zu ändern, zu validieren und zu integrieren erfordert Zeit und Ressourcen. Wie es genau weiter geht mit LIBOR & Co bleibt ohnedies noch spannend, denn noch scheint der Markt die Änderungen, die auf ihn zukommen, nicht allzu ernst zu nehmen. Die meisten Neugeschäfte werden weiterhin auf die herkömmlichen LIBORs referenziert. Doch selbst wenn LIBOR in irgendeiner Form bleiben sollte, so werden doch zukünftig auch Zinsprodukte auf die neuen Overnight Rates im Markt gehandelt, und allein deshalb ist die Implementierung des neuen Forward Market Modells Pflicht für jeden Marktteilnehmer.