Das Wort Derivate hat bei vielen Menschen einen schlechten Ruf. Woran liegt das? Werden sie einfach nur missverstanden, oder wird damit tatsächlich so viel Schlechtes und Unrechtes getan?

Zinsswaps = Spekulation?

Derivate und sogar so einfache Produkte wie Zinsswaps werden nicht selten als rein spekulative Roulette-Spielereien von Banken und Financiers dargestellt. Und das nicht nur von Laien, sondern durchaus auch von jenen, die es eigentlich besser wissen sollten. In der Ausgabe vom 26. August 2019 der Bloomberg Businessweek etwa, einer ansonsten qualitativ hochwertigen Zeitschrift, war zu lesen, dass Zinsswaps ein Vertrag seien, den Investoren dazu nutzen, um auf das Zinsniveau in ferner Zukunft zu spekulieren. Im Beitrag war der wilde Spekulant, der Zinsswaps einsetzte, Michael Hasenstab von Franklin Templeton, der mit Zinsswaps seine Markterwartung einer Kuvenversteilerung nachbildete. Doch sind Zinsderivate wirklich diese wilden Spekulations-Verträge?

Derivate sind abgeleitete Finanzprodukte

Derivate sind tatsächlich nichts Neues. Es gibt sie schon seit Jahrtausenden, und im Grunde sind sie nichts anderes, als Verträge, deren Rechte und Pflichten von tatsächlichen Grundgeschäften abgeleitet werden. Das kann die erwartete Ernte sein, Erdöl, aber genau so gut eine Währung oder Zinszahlungen. Die frühesten Derivate waren Forward Geschäfte aus dem Agrarbereich. Ab dem 19. Jahrhundert wurden viele Forward Kontrakte in Form von Futures standardisiert und konnten ab dann an der Börse gehandelt werden. Sie halfen schon damals Produzenten und Händlern dabei, Preisschwankungen abzusichern und die Versorgung mit Rohstoffen sicherzustellen. Erst in den 1970er Jahren kamen dann auch Futures auf Edelmetalle, Währungen und Anleihen hinzu. Auch hier war das primäre Ziel der meisten Nutzer, sich gegen Preis- und Angebotsschwankungen abzusichern.

Derivate sind heute sehr vielfältig

Die Welt der gehandelten Derivate hat sich über die vergangenen 50 Jahre deutlich verändert. Derivate auf landwirtschaftliche Produkte wie Weizen, Zucker, Ölsaaten, Schweinebäuche und Rinder machen heute volumensmäßig nur noch einen geringen Teil des Gesamtmarktes aus. Bedeutung haben sie selbstverständlich nach wie vor eine ausgesprochen große für Produzenten und Händler, die entsprechende Futures nach wir vor zur Absicherung von Preisschwankungen nutzen. Doch weitaus größer ist die Bedeutung von Derivaten heute für das globale Finanzsystem. Die wichtigsten Derivate sind heute Optionen, Futures und Swaps auf Zinsen und Währungen und mit etwas Abstand auch auf Aktien. Acht von zehn Derivategeschäften entfallen weltweit übrigens auf Zinsderivate, die damit die wichtigsten Derivate weltweit sind.

Zinsderivate: Zentrale Absicherungsinstrumente für Zinsprodukte

In den Hauptwährungen sind Zinsswaps und Futures auf standardisierte Staatsanleihen-Kontrakte wie etwa der Bundfuture ausgesprochen liquide und ständig gehandelte Derivate, die eine Vielzahl von Nutzen erfüllen. Die reine Spekulation auf Zinsentwicklungen ist mit Bundfutures und Zinsswaps natürlich auch möglich – Sie können ein Auto auch als reine Dekoration in einer Garage einsetzen anstatt als Transportmittel – aber die zentrale Bedeutung von Zinsderivaten geht weit darüber hinaus. Das liegt an der zentralen Bedeutung ihres Basiswertes: Zinsprodukte! Darunter fällt alles, das Zinsen bezahlt oder auf das Zinsen bezahlt werden müssen. Das sind Kredite jeder Art und Laufzeit, Staatsanleihen, Unternehmensanleihen, Schuldscheindarlehen, verbriefte Produkte, Spareinlagen bei Banken, bestimmte Versicherungsverträge, Rentenversicherungen und vieles, vieles mehr. Zinsprodukte betreffen einen jeden von uns sowohl direkt als auch indirekt. Seien es unsere Kredite für Haus, Auto oder Sofa, die Rentenversicherung, die ihrerseits wiederum in viele Anleihen von Staaten und Unternehmen investiert ist, in die Schulden unserer Kommune, in der wir leben, die in Form von Kredit, Schuldscheindarlehen oder Anleihe bei der örtlichen Sparkasse, Investoren oder der Öffentlichkeit aufgenommen wurden, überall begegnen wir Zinsprodukten. Ihre Bedeutung ist für unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft wichtig und zentral. Und weil wir – und damit sind wir als Individuen aber auch unsere Institutionen wie Banken, Staaten, Versicherungen, etc. gemeint – mit unseren Krediten, Einlagen und Investitionen meistens nicht spekulieren sondern vielmehr vorausschauend planen wollen, spielen Zinsderivate eine so wichtige Rolle. Denn durch sie können wir Zinsrisiken absichern.

Zinsderivate sind primär Absicherungsinstrumente

Wären Zinsswaps und Bondfutures tatsächlich nur rein spekulative Verträge, hätten sie niemals das Handelsvolumen und den Stellenwert erreicht, den sie heute in unserer weltweit vernetzten und modernen Finanzwelt einnehmen. Vielmehr dienen Zinsderivate der Absicherung von Zinsrisiken. Im Risikomanagement und Hedging sind sie zentrale Instrumente, die von einer Vielzahl an Marktteilnehmern eingesetzt werden. Denn gerade bei Anleihen und Krediten erstrecken sich die Laufzeiten nicht selten über Jahrzehnte. Doch niemand kann so weit in die Zukunft blicken, und die Welt in 20 oder 30 oder gar 100 Jahren wird eine sehr andere sein als die Welt und Wirtschaft, wie wir sie heute kennen. Wer kann also sagen, wo das Zinsniveau dann liegen wird? Um sich dagegen abzusichern und Projekte, Anlagen und Verträge planbar zu machen, werden täglich Zinsderivate im Wert von vielen Billionen Euro umgesetzt. Nicht von Spekulanten, sondern tatsächlich von Treasurern und Risikomanagern, die damit die Stabilität vieler unserer Anlagen und Verbindlichkeiten sichern. Das ist die zentrale Bedeutung von Derivaten und Zinsderivaten.