Ein altes Händlersprichwort heißt: „Der Markt hat immer Recht.“ Der einzelne Marktteilnehmer mag den Markt nicht verstehen oder seine Hintergründe kennen. Die große Gesamtheit der Kapital- und Finanzmarktteilnehmer aber agiert gemeinsam dennoch wie ein höheres Bewusstsein. In den jeweiligen Marktbewegungen und damit den Marktdaten findet sich deshalb eine ganze Menge an Information über das wahre Befinden des Marktes und damit der Wirtschaft. Analysten, Journalisten, Volkswirte, Politiker, Banker und andere vermeintliche Experten können sich irren, bestimmte Meinungen und Ziele verfolgen oder absichtlich bestimmte Informationen streuen. Der Markt hingegen, so sagt man, hat immer Recht.

Kann der Markt in die Zukunft blicken?

Eine Kristallkugel, mit der wir in die Zukunft sehen können, haben wir nicht. Der Markt mit all seinen Daten kann deshalb keine genaue Vorhersage für Zustände in der Zukunft sein. Wohl aber sehen wir in den Daten eine Momentaufnahme dessen, was die Gesamtheit der Marktteilnehmer von der Zukunft erwartet. Die Schwierigkeit liegt in der Interpretation, denn neben einer meist ziemlich genauen, gemeinsamen Durchschnittsmeinung liefert uns das Finanzmarktgeschehen noch eine ganze Menge an Neben- und Hintergrundgeräuschen.

Kurzfristige Einflussnahmen

Immer wieder ist zu beobachten, wie einzelne Gruppen oder Personen das Finanzmarktgeschehen zumindest vorübergehend beeinflussen. Die Stärke des Einflusses auf die Bewegung einzelner Assetmärkte hängt dabei von zwei Parametern ab: Geld und Einfluss. Diejenigen, die über riesige Summen Kapital verfügen, können allein durch Angebot und Nachfrage Preise bewegen. Große institutionelle Investoren wie Staatsfonds, Rentenkassen und Investmentfonds schaffen es, durch ihre gigantische Größe zumindest kurzfristig Einfluss auf Preisentwicklungen zu nehmen. Neben den Marktteilnehmern mit gigantischen Assets under Management gibt es noch jene, auf die andere Marktteilnehmer hören und ihrer Meinung vertrauen. Dazu zählen etwa Zentralbanken oder „Influencer“ wie Warren Buffet. Auch sie können die Märkte kurzfristig bewegen. Langfristig können auch sie sich nicht gegen Druck der Gesamtheit der Marktteilnehmer stellen. Denn am Ende kommt es auf völlig andere, viel grundlegendere Dinge an.

Wechselkurse, Zinsen und Inflation

Sie sind die Basis des Finanzmarktes: Zinsen und Wechselkurse. In keinen anderen Assetmärkten wird mehr gehandelt als in Zinsprodukten (Anleihen, Kredite, Verbriefungen, Zinsderivate) und Währungsgeschäften (FX Spot Geschäfte, FX Forwards, FX Swaps). Dabei ist der Wechselkurs zwischen einem Währungspaar nichts anderes als die Zinsdifferenz der beiden Märkte. Die Zinsen ihrerseits aber sind ebenfalls nur ein Produkt der jeweiligen Inflationserwartungen des Marktes. Die Inflationserwartung hingegen stützt sich auf das Zusammenspiel zwischen Wirtschaftswachstum und Geldmenge. Letztendlich kommt es auf genau diese beiden Variablen an!

Geldmenge und Wirtschaftswachstum: Tappen im Dunkeln

Doch gerade das zukünftige Wirtschaftswachstum und die Geldmenge sind nicht direkt im Finanzmarkt zu beobachten. Deshalb müssen Marktteilnehmer Rückschlüsse aus den Marktdaten der Zins- und Währungsmärkte ziehen und aus ihnen ableiten, wie „der Markt“ die zukünftige, wirtschaftliche Entwicklung im Zusammenspiel mit der vorhandenen Geldmenge erwartet. Die Gründe, warum weder Geldmenge noch Wirtschaftswachstum direkt beobachtbar sind, sind vielfältig. Die Geldmenge ist dabei sogar der schwierigste Teil, denn erstens gibt es in der klassischen Ökonomie keine korrekte Definition der tatsächlich relevanten Geldmenge, derzeit keine Möglichkeit, die Geldmenge verlässlich zu messen, und drittens ist die Komplexität von Geldmenge und Umlaufgeschwindigkeit ausgesprochen hoch. Denn Geld wird nicht durch die Zentralbank vermehrt (wie viele fälschlicherweise denken), sondern durch Banken, Unternehmen und sogar Privatpersonen, die sogenanntes Buchgeld erzeugen. Die Zentralbank ist Hüterin der Währung. Die wirklich relevante Geldvermehrung findet durch die Wirtschaft und das Finanzsystem statt. Jeder, der einem anderen Kredit gewährt oder Kapital in Form von Anleihen, Schuldscheindarlehen, über Derivate, Verbriefungen oder sonstige Fixed Income Finanzierungsformen verleiht, vermehrt dadurch die Geldmenge. Ebenso vermehren Geschäfts- und Investmentbanken, institutionelle Investoren, Fonds und Versicherungen, die am Repo-Markt teilnehmen, die Geldmenge. Wie viel Geld tatsächlich frei verfügbar vorhanden ist und wie schnell es die Hände wechselt, hängt wiederum von Dingen wie Vertrauen, Stabilität, Opportunität und Bonität ab. Was noch erschwerend hinzukommt: Unsere heutige Welt ist global vernetzt. Geld kennt keine Grenzen. Geld in Euros, Dollars, Yen und jeder anderen Währung kann nicht nur über Landesgrenzen hinweg verschickt, sondern sogar im Ausland neu geschaffen oder vernichtet werden. Das wiederum macht es noch komplizierter, die tatsächlich vorhandene Geldmenge zu bestimmen.

Geldmenge und Wirtschaftsleistung müssen im Einklang stehen

Geldmenge und Wirtschaftswachstum sind zudem keineswegs unabhängig voneinander. Schließlich kommt es darauf an, was mit dem vorhandenen Geld gemacht wird. Wird es investiert und werden dadurch bessere und hochwertigere Produkte und Dienstleistungen geschaffen, die einen Mehrwert durch Wertsteigerung und Veredelung bringen? Oder wird das Geld stattdessen gespart, in reine Kapitalanlagen gesteckt und nicht produktiv eingesetzt? Wirtschaftswachstum hat deshalb auch sehr viel mit der Verteilung des Geldes zu tun, sowie mit Vertrauen, Innovation, Stabilität, Bonität und dem wertsteigernden Einsatz von Ressourcen (Arbeitskraft, Rohstoffe, Energie, Kapital, etc.). Für die Wirtschaftsleistung selbst ist es zudem ausgesprochen wichtig, die genau richtige Menge an Geld zur Verfügung zu haben. Herrscht ein Mangel an frei verfügbarem Geld, ist das ebenso wenig gut wie zu viel Geld in Umlauf. Letzteres würde entsprechend der klassischen Ökonomie direkt zu Inflation führen. Ein Mangel an Geld hingegen hemmt das Wachstum.

Was verraten die Zinsen nun über die Zukunft?

Zinsen sind nichts anderes als die Inflationserwartung des Marktes. Dabei werden die Zinsen keineswegs von der Zentralbank festgesetzt. EZB, Fed und BOJ können einzig jenen Satz festsetzen, zu dem sich große Banken, die bei ihnen als Primary Dealer registriert sind, bei der Zentralbank Geld leihen und dort hinterlegen können. Dieser Satz hat einen Einfluss auf das Verhalten dieser Primärmarkt-Dealer, aber die Zinskurve selbst bestimmt die Zentralbank dadurch nicht. Die Zinsstrukturkurve kommt einzig durch Angebot und Nachfrage zustande, die sich wiederum an den Inflationserwartungen der Marktteilnehmer für unterschiedliche Laufzeiten orientieren. Denn Zinsen sind im Grunde nichts anderes als eine Entschädigung für einen erwarteten Kaufkraftverlust während der Zeit, über die Geld an jemand anderen verliehen wird, plus einem Aufschlag für einen möglichen Zahlungsausfall. Je nach Länge der Laufzeit ändert sich die Erwartung des Marktes und entsprechend kommt eine Zinsstrukturkurve zustande.

Zinsen setzen sich also zusammen aus der allgemeinen Inflationserwartung sowie einer individuellen Bonitäts-Komponente. Da uns der Bonitätsaufschlag hier nicht interessiert, verwenden wir im Markt beobachtbare Zinsen und ziehen die Bonitätskomponente ab. Nehmen wir nun etwa die 5-jährige Deutsche Bundesanleihe, die am 9.11.2020 eine Rendite von -0,815% hatte und ziehen von dieser den CDS-Spread von 13 Basispunkten (0,13%) ab, erhalten wir eine Rendite von -0,945%. Das bedeutet, dass der Markt für die nächsten fünf Jahre gar nicht mit Inflation rechnet, sondern sogar mit einer Deflation. Keine gute Prognose für das Verhältnis zwischen Wirtschaftswachstum und Geldmenge. Die Zahlen für Frankreich (5-jährige Staatsanleihe bei -0,71% und CDS bei 20bp), Italien (5-jährige Staatsanleihe bei 0,16% und CDS bei 115bp), Griechenland (5-jährige Staatsanleihe bei 0,24% und CDS bei 134bp) und Spanien (5-jährige Staatsanleihe bei -0,42% und CDS bei 57bp) gehen in die gleiche Richtung. Die deutschen Staatsanleihenrenditen waren am 9.11.2020 über sämtliche Laufzeiten negativ. Was auch immer die EZB macht, der Markt zeigt uns über die Zinskurve, dass weder Inflation noch Wirtschaftswachstum eingepreist sind, und die aktuellen Maßnahmen der Zentralbanken daran nichts ändern. Die Euro Zinsswap-Kurve erzählt die genau gleiche Geschichte, und das bereits seit Jahren.

Die Intelligenz des Marktes nicht unterschätzen

Auch wenn wir nicht in die Zukunft sehen können, dürfen wir die Intelligenz des Marktes nicht unterschätzen. Als Einzelperson laufen wir ständig Gefahr, uns von eigenen Vorurteilen, fremden Expertenmeinungen und während des Studiums gelernten Mustern und Grundsätzen beeinflussen zu lassen, die unseren Blick auf das große Ganze verklären. Wir lauschen zu oft auf das Hintergrundrauschen, ohne die Nachricht selbst zu hören. Gerade deshalb sollten wir die Intelligenz des Marktes für uns nutzen. Denn am Ende zeigt sich meist, dass zumindest makroökonomisch die Zahlen und Daten des Marktes die bessere Entscheidungsgrundlage sind.