Hält man sich an die Theorie von Lehrbüchern, so können Optionen keinen negativen Strike haben. Schließlich zahlt jemand eine Optionsprämie dafür, ein Asset zu einem zukünftigen Zeitpunkt zu einem bestimmten Preis kaufen oder verkaufen zu können. Ein negativer Strike kommt in diesem Gedankengang und in den meisten Optionspreismodellen einfach nicht vor. Nicht mal eine Untergrenze von Null ist vorgesehen, sondern ausschließlich positive Werte. Schließlich will ich beim Kauf einer Putoption mein Asset noch zu einem positiven Wert verkaufen. Ein Strike von Null hätte für mich keinen Wert und ich würde diese Option auch nicht kaufen. Auf weniger als Null kann mein Asset nicht sinken. Genauso bei einer Calloption. Auch hier kaufe ich mir das Recht, das zugrundeliegende Asset zu einem positiven Wert zu kaufen. Auch hier wäre ein Strike von Null bereits sinnlos für mich, und ich würde dafür keine Prämie ausgeben.
Das war alles vor der aktuellen Zeit der extremen Niedrigzinsphase und anhaltend negativer Renditen auf Staatsanleihen vieler Länder. Das war vor der Zeit von negativen Zinsen auf Bankguthaben oder Zentralbankeinlagen. In unserer heutigen, ziemlich verkehrten Zinswelt muss man häufig Geld dafür bezahlen, jemand anderem etwas leihen zu dürfen. So zahlen Banken dafür, ihr Geld bei der Europäischen Zentralbank zu parken. In mehreren Ländern zahlen Bankkunden dafür, Geld auf dem Konto oder Sparbuch zu haben. Und Investoren zahlen Ländern wie der Schweiz, Deutschland, Österreich, Dänemark und vielen anderen Geld dafür, ihre Staatsanleihen halten zu dürfen. Negative Zinsen – einst unvorstellbar und jenseits aller Theorie – sind heute unser Alltag. Das wiederum hat Einfluss auf die Optionswelt.
Nehmen wir einen einfachen Zinsswap. In der alten, heilen Welt mit einer normalen Zinskurve und positiven Zinssätzen als eine fundamentale Grundfeste des Denkens, erhielt eine Partei im Zinsswap einen Fixsatz, und die andere Partei erhielt dagegen meist den Euribor (entweder den 3-Monats-Euribor order den 6-Monats-Euribor). Dass der Euribor jemals ins Negative rutschen könnte, das war absolut unvorstellbar. Man tauschte mit dem Zinsswap einen fixen Zins gegen einen variablen Zins, und aus damaliger Sicht zum Zeitpunkt des Abschlusses sollten sich die einzelnen Zahlungen jeweils ausgleichen. Zum Abschlusszeitpunkt hatte ein Zinsswap also stets einen Barwert von Null.
Dann kam der Frühling 2015 und mit ihm das böse Erwachen. Der 3-Monats-Euribor etwa liegt seit April 2015 im negativen Bereich. Das bedeutet für Zinsswaps, dass derjenige, der den variablen Zins empfangen sollte, plötzlich einen negativen Zins empfängt, also auch auf dieser Seite des Swaps zahlen muss! Der Fixzinszahler im Swap muss also plötzlich auf beiden Swapseiten Zinsen bezahlen. Eine absurde Sache, möchte man meinen, aber in Zeiten negativer Zinsen leider zur Realität geworden. Für diejenigen, die vor mehreren Jahren Swaps abgeschlossen haben, in denen der variable Satz mit einem deutlichen Abschlag versehen war, zum Beispiel 6-Monats-Euribor minus 50 Basispunkte, für die ist der Ernstfall schon vor geraumer Zeit eingetreten.
Nicht besser geht es Käufern von Anleihen, die variabel verzinst sind. Beträgt der Zins auf eine Anleihe beispielsweise 3-Monats-Euribor + 0,10%, und liegt der 3-Monats-Euribor bei -0,10%, so erhält der Anleiheninhaber für diese Zinsperiode keine Zinsen. Liegt der Euribor sogar bei -0,11%, so müsste der Anleiheninhaber dem Emittenten 0,01% an Zinsen bezahlen. Zum Glück gibt es bei Anleihen derzeit die Marktusance, dass eine Zinsuntergrenze von 0% impliziert wird. Das hängt unter anderem auch mit der Abwicklung zusammen, die eine Zinsumkehr nicht darstellen kann. Bei neu begebenen Anleihen hingegen werden negative Renditen derzeit in Form von 0% Zinsen und einem Verkauf über Pari dargestellt.
Eine verkehrte Welt? In der Tat, und deshalb wird versucht, mithilfe von Mindestkupons oder sogenannten Floors die unerwünschten Effekte negativer Zinsen bei Swaps und Anleihen zu verhindern. Einen Floor bei Null auf der variablen Seite einzubauen, das ist bereits schwierig, aber einen Floor von -0,10%? Eine Option also mit einem negativen Strike? Hier stoßen wir mit den herkömmlichen Optionspreismodellen wie Black Scholes an unsere Grenzen. Schon rein mathematisch wohlgemerkt. Denn die meisten Modelle, so auch Black Scholes, arbeiten mit Logarithmen. Und Logarithmen und negative Zahlen passen nicht zusammen, wie wir bereits im Grundkurs Mathematik gelernt haben. Ein Logarithmus negativer Zahlen ist nicht definiert.
Was also tun? Was ist die Lösung? Mit den herkömmlichen Markov und Black Modellen lassen sich komplexe Derivate schon länger nicht mehr korrekt bewerten. Die Praktiker im Markt verwenden seit einigen Jahren gerne SABR („Stochastic Alpha Beta Rho“ Modell) und das Libor Market Modell. Ebenfalls eingesetzt, wenn auch aufgrund seiner Komplexität seltener, wird das Multi-Faktor Quasi-Gaussian Modell. Aber auch sie müssen für negative Strikes abgewandelt werden, da auch in ihren Grundformeln eine log-normale Verteilung angenommen wird. Als die Modelle in den 1990er Jahren entwickelt wurden, waren negative Strikes und Zinsen eben noch kein Thema.
Notwending sind deshalb für die Bewertung von negativen Strikes Modelle mit einem ursprünglichen Wiener Prozess oder auch Brownscher Bewegung, ohne die geometrische Abwandlung, die etwa das Black Scholes Modell verwendet. Aktuell wird deshalb meist auf abgewandelte Formen des SABR Modells zurückgegriffen. Das „Shifted SABR“ und das „free boundary SABR“ Modell stellen Erweiterungen dar. Die Modelle arbeiten etwas unterschiedlich, aber nach ähnlichen Mustern. Sie passen die Verteilungen für Volatilitäten und Forwards aus dem negativen Bereich entsprechend an, um die Berechnung auch mit negativen Zahlen durchführen zu können.
Eine Möglichkeit etwa ist das Verschieben der Kurve vom negativen in den positiven Bereich. Dabei werden die Forward Rates parallel verschoben (deshalb auch der Name „Shifted SABR Modell“). Ist also der erwartete Zinssatz mit 0,5% negativ, so wird die Kurve um 0,5% verschoben. Dann muss noch die Interpolation der Swaption Preise angepasst werden, was mit dem Shifted SABR Modell ebenfalls möglich wird, aber viel Feingefühl und Erfahrung erfordert. Im anderen, gängigen Modell werden die Grenzkonditionen entsprechend angepasst. Anstatt bei Null aufzuhören, werden für die Forwards nur absolute Zahlen verwendet. Auf diese Weise können Preise auch für negative Strikes berechnet werden.
Es ist in jedem Fall eine neue, unerwartete Herausforderung, die auf die Zinswelt in den letzten Jahren zugekommen ist. Die Modelle werden sich laufend weiterentwickeln, aber es wird wohl noch einige Zeit dauern, bis auch normale Anwender benutzerfreundliche Modelle und Systeme zur Verfügung haben werden. Für die Implementierung bedarf es erfahrener Programmierer und Finanzmathematiker, die allerdings nicht in jedem kleineren Haus zur Verfügung stehen. Bis dahin besteht wieder – wie bei allen relativ neuen und komplexen Derivaten – ein Informationsungleichgewicht zwischen Investmentbanken auf der einen Seite und Nutzern von Derivaten auf der anderen Seite.