Hauptversammlungen haben Unterhaltungswert!
Wer denkt, Aktienbesitz habe nur etwas mit Vermögensaufbau und Kapitalerträgen zu tun, und nicht unbedingt etwas mit Unterhaltung, der war noch nicht auf der Hauptversammlung eines großen Aktienunternehmens. Was hier oft an Unterhaltung geboten wird, kann sich sehen lassen. Nein, wir sprechen hier nicht von Clowns, die Aktionäre unterhalten (obwohl, hier und da ist man nahe dran) oder wilden Tieren (auch hier könnte man bei so mancher Hauptversammlung an Tiger, Affen und Esel in der Zirkusmanege erinnert werden), sondern von Vorständen, Aufsichtsräten und Aktionärsvertretern, die einander und das anwesende Publikum teils wunderbar amüsieren und auch echauffieren.
Alles andere als langweilig!
Dabei klingt das Thema Hauptversammlung grundsätzlich einmal langweilig. Vom Gesetzgeber vorgeschrieben, muss die Aktiengesellschaft mindestens einmal im Jahr ihre Aktionäre (also ihre Unternehmensbesitzer) einladen, um diverse, vorgegebene Beschlüsse wie die Entlastung des Vorstandes und Aufsichtsrates sowie diverser Änderungen in der Gesellschaft und ihren Satzungen von den Aktionären absegnen und beschließen zu lassen. Den Managern ist dieses Sich-Drein-Reden-Lassen durch die Aktionäre häufig ziemlich lästig. Das ist ihnen auf den Aktionärsversammlungen in vielen Fällen auch tatsächlich anzusehen. Und hier beginnt es, interessant zu werden. Denn Hauptversammlung, das bedeutet häufig eine Konfrontation zwischen dem Management/Aufsichtsrat und den Aktionären/Aktionärsvertretern. Denn nicht selten haben Aktionäre andere Ansichten was beispielsweise die Millionenvergütungen des Vorstandes oder der Gestaltung diverser Geschäftsbereiche betrifft. Dann wird es spannend.
Auf der Hauptversammlung
So kam es, dass ich unlängst selbst auf einer dieser Aktionärsversammlungen war. Es ging neben den üblichen Entlastungen des Vorstandes und Aufsichtsrates diesmal auch um eine Unternehmensaufspaltung, also einen wichtigen Punkt. Dass meine paar Aktien bei den vielen Millionen Stimmrechten nicht wirklich etwas an den Entscheidungen ändern konnten, darüber machte ich mir nur am Rande Gedanken. Doch das Erlebnis Hauptversammlung selbst hat mich nicht enttäuscht. Ein Tag im Büro hätte bei Weitem nicht so viel Unterhaltungswert gehabt.
Die Völkerwanderung der Rentner
Ich war knapp dran, da ich auf der Suche nach einem Parkplatz und dem folgenden Fußmarsch zur großen Messehalle, in der die HV stattfand, Zeit verloren hatte. Doch ich war offensichtlich nicht die letzte Aktionärin, die ankam. Ich musste mich nur in die kleine Völkerwanderung der Rentner einfügen, die sich mal schneller, mal langsamer aufgrund des fortgeschrittenen Alters, in Richtung Sicherheitsschleusen bewegte. Die älteren Aktionäre scheinen ihn jedenfalls erkannt zu haben: Den Unterhaltungswert einer großen HV. Zwischen den Rentnern tummelten sich Anwälte, Aktionärsvertreter, die ein oder anderen illustren Gestalten sowie vereinzelt jüngere Aktionäre.
Information selbst auf dem Stillen Örtchen
Etwas enttäuscht wirkten viele der Rentner darüber, dass es diesmal kaum Werbegeschenke in den hübschen Stoffbeuteln gab, die verteilt wurden. Immerhin war bereits zur frühen Stunde (Beginn war 10 Uhr) für das leibliche Wohl gesorgt. Kostenlose Getränke, Kaffee, dazu Croissants in den weitläufigen Foyer-Räumen. Hier und selbst auf der Toilette musste man sich keine Sorgen machen, etwas zu verpassen. Die Tonspur dessen, was im riesigen Vortragssaal gesagt wurde, begleitete einen überall hin. Selbst auf das ansonsten Stille Örtchen.
Warum habe ich nur so wenige Aktien von diesem tollen Unternehmen?
Der Saal selbst war riesig und bot Platz für mehrere Tausend Aktionäre und ihre Vertreter. Ich hatte noch nicht sonderlich viel verpasst. Der Bericht des Vorstandsvorsitzenden war gerade in Gange. Bunte Powerpoint Folien, deren Schriftgröße für den riesigen Saal etwas größer hätte sein können, lobten das Unternehmen in den Himmel. Der Vorstandsvorsitzende war zudem ein toller Redner, dem man gerne zuhörte. Ich war begeistert und fragte mich, warum mein Mann und ich nur so wenige Aktien des Unternehmens hatten. Hätte ich gekonnt (Handys waren im Saal leider verboten), ich hätte sofort nachgekauft! Der Mann war klasse, und das Unternehmen offensichtlich außerordentlich erfolgreich. Dazu noch dieses schöne, neue Logo des neuen Unternehmens! Meine Stimmungslage war euphorisch!
Gähn. Die Vorleseübung
Danach folgte ein Vortrag des Aufsichtsratsvorsitzenden. Gähn. Vortrag ist dafür zudem nicht das richtige Wort. Leseübung. Leseübung eines schlechten Lesers. Denken Sie an ein Grundschulkind, das ohne die richtige Intonation Texte vorliest und sich dabei auch immer mal wieder korrigieren muss, weil die Wörter zu schwierig sind. Der alte Mann, der neben mir saß, schlief bereits tief. Zumindest nahm ich das an und hoffte sehr, dass er nur schlief. Mein letzter Erste Hilfe Kurs liegt schon einige Zeit zurück. Meine Aufmerksamkeit schweifte bei der Vorleseübung sowieso ab. Keine Ahnung, was der Langeweiler da vorne am Rednerpult so vorlas. Wie wird so jemand bloß Aufsichtsratsvorsitzender? Aber vielleicht hatte die Sache ja auch Strategie. Sollte bloß niemand zu genau mitbekommen, was er da vorlas. Denn so nebenbei fielen Worte wie Vorstandsvergütungsmodell und Abfindungen für die Vorstände in Millionenhöhe.
Ich beobachtete also während der Fremdschäm-Leseübung die Leute im Saal, die immer weniger wurden, sowie den schlafenden, alten Mann neben mir. Der war sicher über 90, und offensichtlich brauchte er ab und an ein Nickerchen. Irgendwann stand er plötzlich auf und verließ langsam schlurfend und leicht humpelnd den Saal. Ich atmete erleichtert auf. Doch kein Fall für mein rudimentäres Erste Hilfe Wissen.
Wo ist das deutschsprachige Talent geblieben?
Nach der Leseübung ging es weiter mit der Vorstellung neuer Aufsichtsratsmitglieder. Zwei neue Frauen im Aufsichtsrat sprechen kein Deutsch. Eine ist erst gar nicht gekommen und wird vom Leseübungsleiter vorgestellt, die andere stellt sich selbst vor. Auf Englisch. Mit gleichzeitiger Simultanübersetzung in gleicher Lautstärke. Diesem Gewirr aus Deutsch und Englisch kann man nur schwer folgen. Was diese fünf Minuten sinnloser Simultanübersetzung wohl gekostet hat? Konnte dieses tolle Unternehmen denn nirgendwo eine deutschsprachige Frau für den Aufsichtsrat finden?
Der Magen knurrt. Oder: Alles nur Strategie?
Nun ging es bereits gegen Mittag zu. Der Magen aller begann zu knurren und langsam verließen die Rentner den Saal in Richtung Mittagsbuffet. Schnitzel mit Kartoffelsalat oder weiche, gefüllte Canelloni. Keine Haute-Cuisine, aber immerhin reichlich. Bis auf die Schnitzel, die waren bald aus.
War es Strategie? Vorsatz? Zufällige Zeitplanung? Jedenfalls begann genau um 12.00 Uhr mittags die Fragerunde der Aktionäre an den Vorstand und Aufsichtsrat. Punkt Mittag. Genau dann, wenn alle Rentner pünktlich ihr Mittagessen einnehmen wollen. Und sich auch bei den Anwälten und Aktionärsvertretern der Hunger meldet.
Vorstands-Bashing!
Doch der knurrende Magen musste warten. Denn die Wortmeldungen der Aktionärsvertreter, das ist ein gewisses Highlight. Da gibt es Schmackes. Das ist großes Kino. Vorstands-Bashing sozusagen, das Vorstand und Aufsichtsrat stoisch über sich ergehen lassen müssen. Da werden Berichte in der Luft zerrissen, Daten und Zahlen genau hinterfragt, böse Unterstellungen gemacht und auch schon mal direkt beleidigt.
Je nach Hauptversammlung und Unternehmen melden sich natürlich unterschiedliche Personen zu Wort. Meist sind es Aktionärsvertreter, also die Schutzvereinigung von diesem und jenem, Anwälte und auch so manch bunter Vogel, der von HV zu HV pilgert, um dem Management die Leviten zu lesen.
Warum habe ich überhaupt Aktien von diesem schrecklichen Unternehmen?!
Für den ersten Wortmeldeblock waren vier oder fünf Redner vorgesehen. Es dauerte zwei Stunden, bis alle fertig waren. Und sie schenkten dem Vorstand und Aufsichtsrat nichts. Bereits nach dem zweiten Redner war ich ganz entsetzt, dass mein Mann und ich überhaupt Aktien dieses schrecklichen Unternehmens hatten. Hätte ich gekonnt (Handys waren noch immer nicht erlaubt im Saal), ich hätte sofort alle Aktien verkauft. Als Sumpf aus insiderhandelnden Aufsichtsräten, sich mit Millionen selbst bedienenden Managern und schlecht geführten Geschäften ohne Zukunftsperspektive stellte sich das Unternehmen plötzlich dar. Bissig waren die Redner, wild die Anschuldigungen, skandalös die Zahlen, die von ihnen ans Licht gebracht wurden. Und allesamt waren sie gute Redner! Die machten das alle offensichtlich nicht zum ersten Mal. Man konnte ihnen gut zuhören.
Popcorn und Cola bitte!
Spätestens beim dritten Redner hätte ich mir Popcorn und Cola gewünscht. Besser konnte kein Kabarett sein! Und das auch noch ohne Eintritt bezahlen zu müssen und mit gratis Essen und Trinken! Dazu noch ein Schlüsselanhänger und Schokolade als Gastgeschenk, was wollte man mehr! Die Pointen waren oft genial gewählt und führten zu Gelächter und lautem Klatschen der anwesenden Zuhörer. Diese wurden – ich muss es zugeben – leider immer weniger. Die Uhrzeit, der Hunger, die Schnitzel, die bald aus waren! Auch ich fühlte mich schon schwach vor Hunger und Durst, aber ich wollte nichts verpassen. Es war einfach zu lustig! Selbst, wenn man von Finanzen nichts versteht und sich nicht für die Details eines Geschäftsberichts interessiert, die Redner verstanden es vorzüglich, zu unterhalten.
Der dritte Redner war schon wirklich gut gewesen. Doch die vierte Wortmeldung, ein Anwalt aus Köln, der wie ein bunter Hund bekannt ist dafür, auf Hauptversammlungen zu reden, war absolut unschlagbar. Der Mann ist auf Hauptversammlungen eine kleine Berühmtheit und wurde auch schon aus so mancher HV geworfen, weil er sich zu weit vor gewagt hatte. Das passierte ihm diesmal zumindest beinahe. Denn seine wilden Anschuldigungen und skandalösen Behauptungen (Insiderhandel, Selbstbedienung, Untreue, Vertuschung, Unredlichkeit, und so fort) nahmen auch zeitlich kein Ende. Er hörte und hörte einfach nicht mehr auf. Selbst mir wurde es langsam zu lang. Meine Aufmerksamkeit begann abzuschweifen. Ich beobachtete den Vorstandsvorsitzenden, soweit mir das aus der weiten Distanz möglich war (ich saß in der Mitte das riesigen Saals). Hörte der überhaupt zu? Er und der Aufsichtsratsvorsitzende neben ihm wirkten ziemlich gelangweilt und angepisst. Wahrscheinlich dachten auch sie an das Schnitzel, was ich gut nachvollziehen konnte.
Streit bricht aus!
Gerade als ich den Saal in Richtung Buffet verlassen wollte, wurde es wieder spannend. Streit brach aus! Der bunte Anwalt aus Köln und der Vorstandsvorsitzende lieferten sich ein bissiges Wortgefecht. Dem Anwalt wurde angedroht, ihn zuerst aus dem Saal und dann aus der HV zu werfen. Dem Anwalt wird zwischendurch immer wieder mal kurz das Mikrofon ausgeschaltet. Dann ist es zu Ende und der bunte Anwalt verlässt das Rednerpult. Diesmal ohne Rauswurf.
Den fünften Typen konnte ich mir dann wirklich nicht mehr anhören. Zu groß waren Hunger und Durst. Leider waren die Schnitzel um diese Uhrzeit bereits aus. Aber macht nichts, man kommt schließlich nicht nur zum Essen. Ich zumindest nicht. Die Canelloni füllten den Magen auch, und zum Nachtisch gab es ein Schokoladencroissant, das noch vom Vormittag übrig geblieben war. Der angebotene Kaffee war nicht nur zu heiß, sondern schmeckte auch widerlich. Vielleicht ebenfalls Strategie, wer weiß. Nur nicht zu viel Wachmacher ausschenken. Nach den Wortmeldungen war ich misstrauisch geworden.
Der Schnelllesewettbewerbsgewinner ist…
Der Vorstand und Aufsichtsrat taten mir etwas leid (noch kein Essen für sie), auch wenn ich nach den Reden der Aktionärsvertreter und des Anwalts nun eine ganz andere Meinung von diesen gemeinen Schuften hatte. Vorstand und Aufsichtsrat begannen nun, die unzähligen Fragen und Anschuldigungen der fünf Aktionärsredner zu beantworten. Eine Vorleseübung von Unterlagen, die fleißige Helferlein im Hintergrund verfasst hatten, und die den beiden Herren von einer hübschen Assistentin am laufenden Band auf den Tisch gelegt wurden. Dabei sprach der Vorstandsvorsitzende dermaßen schnell, dass er mit Leichtigkeit beim Schnelllesewettbewerb den ersten Platz belegt hätte.
Das Schnelllesen nahm kein Ende. Im Saal, der nun bereits sehr leer war, machte sich eine allgemeine Zermürbung breit. Dabei stand der zweite Rednerblock noch auf dem Programm! Diesen hätte ich mir übrigens gerne noch angehört. Aber leider hatte ich für den Tag noch einige berufliche Verpflichtungen und konnte nicht länger als bis 15 Uhr bleiben. Schweren Herzens verließ ich diese illustre Unterhaltungsveranstaltung.
Die verdiente Abwechslung zum Büroalltag!
Allen Aktionären sei geraten: Geht zur Hauptversammlung oder schaut euch wenn vorhanden den Livestream an! Ihr werdet gut unterhalten, gut verpflegt (im Livestream fehlt das allerdings), erhaltet einen tieferen Einblick ins Unternehmen und die handelnden Personen, als das ein Blick auf Homepage und Geschäftsbericht je erlauben würden, und habt danach ein völlig anderes Bild von so manchem Unternehmen!
Abgesehen von den hier als unterhaltsam gebrachten Aspekten ist es dringend notwendig, dass sich Aktionäre mehr in ihren Unternehmen engagieren. Denn es geht um mehr als schnellen Gewinn und Kapitalerträge. Es geht auch um Verantwortung und darum, als Eigentümer eines Unternehmens aufzutreten und zu handeln.