Sie haben privat, für Ihr Unternehmen oder Ihre Gebietskörperschaft mit einer in Deutschland ansässigen Bank ein OTC-Zinsderivat (umgangssprachlich „Swap-Geschäft“) abgeschlossen, was Ihnen bislang nur Verluste beschert hat? Dann sollten Sie sich den 20.01.2015 im Kalender markieren. An diesem Datum steht eine BGH-Entscheidung an, ob das sog. „Ille-Urteil“ (BGH, Urteil vom 22.03.2011, XI ZR 33/10) auch auf einfachere Derivatkonstrukte übertragbar ist.

Worum ging es beim Ille-Urteil?

Vereinfacht gesprochen ging es bei besagtem BGH-Urteil um folgenden Sachverhalt: Verheimlicht die Bank einem Kunden, dass ein mit ihr abgeschlossenes OTC-Derivat eine sog. einstrukturierte Marge beinhaltet – der Kunde mithin mit einem für ihn negativen Marktwert in das Geschäft einsteigt – so kann der Kunde die vollständige Rückabwicklung des Geschäftes verlangen, indem er sich darauf beruft, dass er dieses Geschäft niemals abgeschlossen hätte, wenn ihm die Bank diesen Sachverhalt bei Abschluss offenbart hätte.

Milliardenschwere Prozessrisiken für Banken

Kann der Kontrahent eines Derivatgeschäftes also nachweisen, dass dies bei Abschluss einen negativen Marktwert hatte und die Bank ihn darüber nicht förmlich belehrt hat, so kann er von der Bank nicht nur den damals (versteckt) einstrukturierten negartiven Marktwert zurück verlangen, sondern er hat einen Entschädigungsanspruch für sämtliche Verluste, die ihm aus dem Geschäft erwachsen sind. Nimmt man bisherige Urteile als Anhaltspunkt, so bewegt sich der Schadensersatz der Bank zwischen 100.000 EUR (Kleinunternehmer oder Privatanleger) und zweistelligen Millionenbeträgen (kommunale Kläger).

Da die Banken bis zum Ille-Urteil grundsätzlich annahmen, dass sie ihren Kunden im Rahmen ihrer Beratungsobliegenheiten keine Auskunft über die üblicherweise in ein Derivat einstrukturierte Marge schuldeten und tausende dieser Derivatgeschäfte abgeschlossen wurden, beläuft sich das Haftungspotenzial der meisten Institute auf deutlich dreistellige Millionenbeträge. Von einem Institut aus dem süddeutschen Raum wird kolportiert, dass es bereits Prozessrückstellungen i.H.v. 750 Mio. EUR für diesen Sachverhalt gebildet hat.

Bisherige Abwehrstrategien der Banken

Angesichts der über ihnen schwebenden Haftungsrisiken haben die meisten Institute die Bajonette aufgepflanzt und entsprechend robuste Strategien entwickelt, um auf Schadensersatz zielende Kundenreklamationen abzuwehren. Entscheidet sich der Kunde trotz bankseitig außergerichtlicher Einigungsangebote und sonstigen unfreundlicheren Abwehrgesten für den Klageweg, dann ist eine der beliebtesten Verteidigungsstrategien die folgende:

Die Bank beruft sich vor Gericht darauf, dass das Derivat, über das der BGH im Jahr 2011 geurteilt hat, ja viel komplexer sei als das Derivat, für das der Kunde die fehlende Aufklärung über den anfänglichen negativen Marktwert nunmehr reklamiere.

In der Tat handelte es sich bei dem damals vom BGH monierten Geschäft um einen sogenannten CMS Spread Ladder Swap, der im Universum der reinen Zinsderivate unzweifelhaft zu den am schwierigsten bewert- und hedgebaren Instrumenten gehört. Bei  weniger komplexen Zinsderivaten – hierzu zählen insbesondere einfache Zinsswaps und Zins-Währungs-Swaps (ggf. mit eingebetteten Optionen) – bestreitet die beklagte Bank sofort die Übertragbarkeit des Ille-Urteils.

Bisherige Handhabung in der Rechtsprechung

Die Bereitschaft der Gerichte, dieser Argumentation der Nicht-Übertragbarkeit zu folgen, war bislang uneinheitlich. Während z.B. in Düsseldorf (als Geschäftssitz der ehemaligen WestLB AG sozusagen das Epizentrum der Klagewelle) tendenziell zu Gunsten der Kläger geurteilt wird, beobachtet man im süddeutschen Raum überwiegend die Abweisung von Schadensersatzklagen.

Normalerweise endete bislang der Großteil der Auseinandersetzungen auf der Ebene der Oberlandesgerichte, wobei Richter regelmäßig eine Revisionsmöglichkeit beim BGH ausgeschlossen haben.

Um eine Revision doch noch zu erzwingen, haben die jeweils unterlegenen Parteien mehrfach eine Nichtzulassungsbeschwerde beim BGH eingereicht, um zu klären, ob auch weniger komplexe Derivate eine mit dem Ille-Urteil vergleichbare Beratungshaftung der Bank auslösen:

  • Die Nichtzulassungsbeschwerde eines vor dem OLG Köln unterliegenden Kunden wurde vom BGH abschlägig beschieden (BGH, Beschluss vom 16.10.2012, Az. XI ZR 74/12). Da derartige Beschlüsse ohne Begründung veröffentlicht werden, lässt dies allerdings allerdings keine Folgerung zu, ob der BGH mit seiner Zurückweisung die Übertragbarkeit des Ille-Urteils auf weniger komplexe Derivate verneinen wollte. Dies gilt umso mehr, als der klagende Kunde in den Vorinstanzen das Vorliegen einer einstrukturierten Marge einfach als Behauptung in den Raum gestellt hatte und gerade in diesem entscheidenden Punkt seiner Beweislast nicht gerecht wurde.
  • Die Erste Abwicklungsanstalt als Rechtsnachfolgerin der WestLB AG hat gegen alle Urteile des OLG Düsseldorf, in denen sie gegen klagende Kommunen unterlag, ebenfalls Nichtzulassungsbeschwerden beim BGH eingereicht.
  • Ein Kunde, der vor dem OLG Nürnberg mit einer auf einen Zins-Währungs-Swap bezogenen Schadensersatzklage unterlag, hat ebenfalls den Weg der Nichtzulassungsbeschwerde eingeschlagen. Für diese Beschwerde, die unter dem Az. XI ZR 316/13 am BGH anhängig ist, steht eine Entscheidung am 20.01.2015 aus. Ironischerweise haben solche Cross-Currency-Swaps, die häufig an den Schweizer Franken gekoppelt sind, gerade in jüngster Zeit wieder für Furore gesorgt.

Erfolgsausaussichten der Verfahren

Die Banken könnten den Großteil der Schadensersatzklagen also abwehren, wenn der BGH bereit wäre, ihrer Argumentation zu folgen, dass bei einfacheren Derivaten eine Aufklärung des Kunden über einen eventuellen negativen Marktwert nicht erforderlich ist. Die Bank könnte sich dann darauf berufen, dass aufgrund des Primitivcharakters eines Derivats der Marktwert dermaßen offensichtlich war, dass ein Kunde ihn selbständig hätte ermitteln können. Dass dem noch nicht einmal beim einfachsten Plain Vanilla Swap so ist, darf allerdings aus mehreren Gründen bezweifelt werden.

Praktische Sicht

Referenzpunkt in Bankargumentation verschoben

Es fällt zunächst auf, dass die Banken bei ihrer Argumentation regelmäßig den Komparativ verwenden: Ein Cross-Currency-Swap ist demnach „weniger komplex“ als der CMS Ladder Swap, auch ein Zinsswap „viel einfacher strukturiert“. All diese Aussagen sind zutreffend, und gleichwohl unterschlagen sie einen wesentlichen Aspekt: Es werden immer Vergleiche innerhalb des Derivateuniversums einer Investmentbank getätigt.

Natürlich ist es für einen Investmentbanker, der täglich mit Zinsderivaten umgeht und auf Bewertungsbibliotheken, Marktpreisdienste und Datenbanken zurückgreifen kann, für die eine Bank jedes Jahr Millionen in Entwicklung, Unterhalt und Lizenzen investiert, einfacher z.B. einen Cross-Currency-Swap zu preisen als die damals strittige CMS Spread Ladder.

Die Frage der Offenkundigkeit des Marktwertes für den Kunden muss aber auf die absolute Komplexität und nicht etwa die relative zielen – also: Kann ein Kunde den Marktwert eines weniger komplexen Derivats eigenständig ermitteln? Das darf schon vor dem Hintergrund bezweifelt werden, dass selbst erfahrene Händler ohne die bankseitig vorhandene Spezialsoftware nicht in der Lage sind, autonom einen einfachen Zinsswap zu preisen. Auch die vermittelnden Primärbanken selbst (also die jeweiligen Bankniederlassungen vor Ort) waren für die Bewertung regelmäßig auf die Aussagen aus den Handelsräumen ihrer Mutterinstitute angewiesen.

Wer sich also auf die bankseitige Argumentation des weniger komplexen Derivats einlässt, der könnte nach derselben Logik behaupten, dass ein Segelflugschüler durchaus in der Lage ist, eine Boeing 747 auf dem Frankfurter Flughafen zu landen, weil dies ja weniger Schwierigkeiten bereitet als die Landung eines F-16 Kampfflugzeugs auf einem Flugzeugträger.

Das OLG Stuttgart bringt diesen Sachverhalt auf den Punkt (OLG Stuttgart, Urteil v. 27.06.2012, Az. 9U 140/11) – gleichwohl öffnen die Richter in diesem Urteil eine neue Büchse der Pandora, nämlich die sog. „Konnexität“ eines Derivats. Hierzu aber in einem späteren Beitrag mehr.

Es ist nicht erkennbar, dass der Bundesgerichtshof selbst das Merkmal der Komplexität zur entscheidenden Grundlage einer Aufklärungspflicht machen wollte. Dieses Kriterium erscheint dem Senat wenig griffig für klare Abgrenzungen. Zudem besteht die Interessenkollision auch bei solchen spekulativen Swap-Verträgen, die […] verhältnismäßig einfach strukturiert sind. Auch hier kann die Bank durch die Wahl der Zinssätze, der Währungen und vor allem aufgrund ihres überlegenen Wissens hinsichtlich der Marktbedingungen die Verlustrisiken des Kunden frei gestalten, während der Kunde im Regelfall nicht in der Lage ist, die Leistungen zutreffend zu bewerten […]. Für den Kunden ist bereits ein aus Sicht der Bank einfacher Swap regelmäßig komplex.

Interne Bankorganisation spricht für komplexen Charakter strittiger Derivate

Was bankseitig ebenfalls unerwähnt bleibt, ist die Art und Weise, in der der Zinshandel üblicherweise organisiert ist. Neben dem Anleihehandel gibt es spezialisierte Derivate-Teams, und innerhalb dieser Derivatgruppen gibt es noch weiter spezialisierte Exotics oder Structured Rates Tische. Wenn also die strittigen Zinsderivate angeblich immer so einfach für jedermann zu bewerten sind – weshalb haben die meisten Banken dann für das Handling dieser Instrumente im eigenen Hause hoch bezahlte Spezialisten-Gruppen eingesetzt?

Juristische Gründe

Auch ein versierter Jurist, mit dem ich über den Einwand der „vergleichsweise geringen Komplexität“ seit langem diskutiert habe, steht der bankseitigen Argumentation kritisch gegenüber. Sein Standpunkt ist der folgende:

Der negative Marktwert ist in jedem Fall einheitlich definiert als der Betrag, mit dem der Markt das Risiko des vom Kunden übernommenen Finanzprodukts zum Abschluss negativ bewertet.  […] Zur Anwendung der Grundsätze des BGH-Urteils kommt es nicht auf die Komplexität des Finanzprodukts, sondern lediglich auf die ungleiche Risikoverteilung zwischen den Vertragsparteien an. Komplexität kann helfen, dieses Ungleichgewicht weiter zu verschleiern, maßgeblich bleibt jedoch das Ungleichgewicht selbst. Ein solches Ungleichgewicht ist immer gegeben, wenn der Marktwert eines Derivates bei Abschluss nicht bei null liegt.

Eine Meldung aus dem Manager-Magazin vom Dezember 2014, die sich mit der Nichtzulassungsbeschwerde des Nürnberger Klägers beschäftigt, lässt in diesem Zusammenhang aufhorchen :

Das OLG meinte, die Sparkasse habe den Kunden nicht über einen anfänglichen negativen Marktwert des Swaps aufklären müssen. BGH-Richter Ellenberger sagte, es sei zweifelhaft, ob das OLG dies zu Recht verneint habe.

Ironischerweise wurde dieser Beitrag im Managermagazin unter dem Titel „BGH macht Anlegern bei Währungswetten wenig Hoffnung“ veröffentlicht. Sollte der BGH der vorläufigen Beurteilung des Vorsitzenden am 11. Zivilsenat folgen, dann ergibt sich jedoch ein ganz anderes Bild. Gerade die Nichtaufklärung über den negativen Marktwert hat nämlich bislang regelmäßig die Schadensersatzhaftung ausgelöst. Vor diesem Hintergrund sollte das Manager Magazin das Wort „wenig“ besser ersatzlos aus der Überschrift entfernen.

Einzige Rettung für die Banken: Verjährung

Für all diejenigen Derivatgeschädigten, die sich bis hierhin bereits große Hoffnungen auf einen siebenstelligen Schadensersatz ihrer Bank gemacht haben, kommt nun jedoch ein jäher Dämpfer: Da das Ille-Urteil des BGH im Jahre 2011 erging, sind etwaige Schadensersatzansprüche aus einem nicht offengelegten negativen Marktwert am 31.12.2014 verjährt, sofern sich der Kunde nicht aktiv (also durch Klageerhebung, Einschaltung des Ombudsmannes, Mahnbescheid, Verjährungsverzichtserklärung u.ä.) um eine Hemmung der Verjährung gekümmert hat.

Oder doch Neulauf der Verjährung?

Nehmen wir einmal an, der BGH bleibt am kommenden Dienstag seiner bisher erkennbaren Tendenz treu und entscheidet, dass auch bei weniger komplexen Derivaten die Offenlegung eines anfänglichen negativen Marktwertes durch die Banken zwingend erforderlich ist. Wäre es dann nicht denkbar, dass diese Entscheidung erneut eine dreijährige Verjährungsfrist aulöst, innerhalb derer Geschädigte ihre Schadensersatzforderungen aus Altgeschäften gegen die Bank geltend machen können?

Es gibt jedoch einige Gründe, die gegen einen eventuellen Reset der Verjährungsfrist sprechen könnten. Zunächst haben etliche Kapitalmarktanwälte vor Ablauf des Jahres potenziell Swap-Geschädigte dazu aufgerufen, auf jeden Fall für eine Hemmung der Verjährung zu sorgen. Daraus schließe ich – sofern hier nicht von anwaltlicher Seite eine Art Power-Marketing betrieben wird – dass Fachanwälte in diesem Bereich nicht von einem Neustart der Verjährung für Altgeschäfte ausgehen.

Ein zweites „weiches“ Signal kommt vom BGH selbst, dieser hatte die Entscheidung über die Nürnberger Nichtzulassungsbeschwerde ursprünglich für Mitte Dezember 2012 angekündigt – also früh genug für bislang noch unentschiedene Derivatgeschädigte, um im Falle einer für Anleger günstigen Rechtsprechung noch vor Ablauf der drohenden Verjährung eine Klage einzureichen. Im Dezember wurde der Entscheidungstermin dann kurzfristig ins nächste Jahr verschoben. Da anzunehmen ist, dass die Finanzbranche jede Menge Lobbyarbeit bei Legislative und Iudikative betrieben hat, würde es mich nicht überraschen, wenn der BGH sozusagen als kleines Entgegenkommen mit der Terminverschiebung dafür gesorgt hat, dass die Finanzbranche zumindest nicht mit weiteren neuen Klagen der bisher Unentschlossenen konfrontiert wird.

Das bedeutet aber nicht notwendiger Weise, dass Geschädigte aus Altderivaten keine Handhabe mehr haben, um ihre Ansprpüche zu verfolgen. Wie bei allen großen Unglücken – ob Tschernobyl, Titanic oder Swaps – kommen regelmäßig mehrere Faktoren zusammen, die sich schließlich in einer Katastrophe entladen. Es ist also nicht abwegig, dass die Nichtaufklärung über den anfänglichen negativen Marktwert lediglich eine Facette, eines viel umfangreicheren Beratungsverschuldens darstellt, auf die sich die Kläger in der Hoffnung auf einen etablierten Haftungsautomatismus bislang konzentriert haben.

Angesichts der üppigen Beratungshonorare bei derartigen Auseinandersetzungen dürfte es genug findige Juristen geben, die im nächsten Schritt nach weiteren Bruchstellen in derartigen Derivatgeschäften suchen werden, für die noch keine Verjährungslage vorliegt. Dies könnte z.B. dann der Fall sein, wenn es gelänge, ein ins Strafrecht ausstrahlendes Beratungsverschulden zu (re-)konstruieren.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Hobbykeller-Blog.