Wahrscheinlichkeiten und unsere menschliche Intuition passen nicht zusammen. Sie sind absolut keine Freunde. Sich im Risikomanagement, bei Anlageentscheidungen und der Unternehmensführung rein auf das Bauchgefühl zu verlassen, davon ist deshalb tunlichst abzuraten. Sie glauben es nicht? Dann hier einige altbekannte Beispiele:

Beispiel 1: Das Geburtstags-Rätsel

In einem Raum befinden sich 23 Personen. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass zwei von ihnen am selben Tag des Jahres (nicht das selbe Jahr, nur der selbe Tag) Geburtstag haben? Die meisten, die das Rätsel noch nicht kennen, werden die Wahrscheinlichkeit intuitiv für sehr gering halten. Schließlich hat ein Jahr 365 Tage, und es befinden sich nur 23 Personen im Raum. Tatsächlich aber ist die Antwort: 50,05%! Mathematisch nachprüfbar und absolut korrekt. Die Formel, die wir ziemlich sicher alle irgendwann im Laufe unserer schulischen Laufbahn gelernt haben, lautet:

\[p(n)=1-\left(\frac{364}{365}\right)^{n(n-1)/2}\]

Tatsächlich ist es so, dass wir nur 56 Personen benötigen, um die Wahrscheinlichkeit auf 99% zu steigern, dass zwei Personen der Gruppe am gleichen Tag Geburtstag haben. Unsere Intuition hat uns dabei nicht geholfen.

Beispiel 2: Medizinische Testergebnisse

Nehmen wir an, Sie möchten sich auf eine bestimmte Krankheit testen lassen, zum Beispiel Influenza, HIV, eine bestimmte Krebsart oder einen Corona-Virus. Nun ist es so, dass medizinische Tests in der Regel nie 100%ig genau sind. Aber nehmen wir an, wir haben einen Test, der eine sehr hohe Treffsicherheit aufweist, und zwar eine Treffsicherheit von 95%. Nun nehmen wir an, die Krankheit, auf die Sie sich testen lassen, ist relativ selten und tritt bei fünf von 1000 getesteten Personen auf. Die Ausgangswahrscheinlichkeit also, dass jemand, der getestet wird, auch tatsächlich an Influenza, HIV, Krebs oder Corona leidet, beträgt 0,5%. Nun nehmen wir, an, dass Sie ein positives Testergebnis zurück bekommen. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie tatsächlich Influenza/HIV/Krebs/Corona haben?

Rein intuitiv werden Sie nun wahrscheinlich sagen, dass die Wahrscheinlichkeit bei 95% liegen muss, denn schließlich hat der Test eine 95%ige Genauigkeit. Tatsächlich aber liegt die Wahrscheinlichkeit viel niedriger bei nur 9%! Wie kann das sein? Eine Testgenauigkeit von 95% bedeutet in der Medizin, dass der Test in 5% der Fälle ein falsches, positives Ergebnis produziert. Werden also beispielsweise 1000 Personen getestet, so erhalten 50 Personen ein positives Testergebnis, obwohl sie nicht krank sind, und nur 5 Personen erhalten ein korrektes, positives Ergebnis. Es werden also voraussichtlich 55 Personen das Ergebnis „positiv“ erhalten, aber nur bei 5 von ihnen stimmt es. Fünf aus 55 ergibt 9%. Den mathematischen Beweis liefert hier der Satz von Bayes. Doch steigern wir die Genauigkeit des Tests auf 99,9%, und nehmen wir an, die Wahrscheinlichkeit, dass jemand tatsächlich eine bestimmte Krankheit hat, ist in der Bevölkerung ist noch geringer, nur eine Person unter 10.000 Menschen. Testen wir nun 10.000 Menschen, wird eine Person ein wahres, positives Ergebnis erhalten, aber immer noch 10 Menschen erhalten ein falsches, positives Ergebnis. Die Wahrscheinlichkeit also, bei einem positiven Ergebnis tatsächlich an unserer Krankheit zu leiden, ist 1 aus 11 oder 9,1%. Verblüffend, oder? Und wieder einmal hat uns unsere Intuition beim Einschätzen des Risikos nicht geholfen.

Wir verschätzen uns: Woran liegt das?

Unsere menschliche Intuition lässt sich nur zu leicht von zufälligen Ereignissen und Ungewissheit in die Irre führen. Woran liegt das? Eine sehr menschliche Eigenschaft ist es, dass wir gerne die Kontrolle über das Geschehen haben. Also sehen Menschen in tatsächlich willkürlichen Ereignissen ein bestimmtes Muster, anhand dessen sie ein bestimmtes Geschehen erklären. Glück wird in unseren Augen zu Begabung, wir überschätzen uns oder andere leicht und gerne, neigen zu übermäßigem Optimismus oder Pessimismus, und wir lieben altbekannte Muster. Außerdem, so die Psychologie, erinnern wir uns eher an Erfolge und vergessen oder verdrängen Misserfolge.

Wahrscheinlichkeitsrechnung und Prozentrechnung: Wenig vorhanden

Unser Bauchgefühl hilft uns bei Risikoentscheidungen nicht weiter. Unsere Intuition leitet uns zu oft in die Irre. Das Problem wird allerdings nicht besser dadurch, dass viel von uns bereits in der Schule mit Prozent- und Wahrscheinlichkeitsrechnen Probleme hatten. An den Universitäten und Hochschulen wird dieses elementare Wissen in den meisten Studiengängen gar nicht, und in vielen anderen nur oberflächlich schlecht vermittelt. In der Regel fehlt es gänzlich in den Lehrplänen. Dass selbst Studenten der Wirtschaftswissenschaften Schwierigkeiten mit Prozentrechnen haben, kann ich aus meiner eigenen Lehrtätigkeit bestätigen. Wahrscheinlichkeitsrechnen und den Satz von Bayes, darüber brauchen wir gar nicht erst zu sprechen, das kann kaum ein Student und Absolvent. Kritisch wird es spätestens dann, wenn all diese Absolventen im Zuge ihrer Berufstätigkeit Prozent- und Wahrscheinlichkeitszahlen interpretieren müssen. Sei es als Risikomanager die Interpretation einer Value-at-Risk Kennziffer, als Journalist die Testergebnisse von Corona & Co zu erklären oder als Asset Manager die Subprime Krise oder einen Kurssturz an der Börse zu analysieren. Sie müssen über etwas entscheiden oder schreiben, das sie kaum oder schlecht verstehen, und es anderen erklären, die wahrscheinlich ebenfalls nicht selbstständig in der Lage sind, Prozent- und Wahrscheinlichkeitsrechnungen zu lösen.

Braucht man das denn alles?

Das Argument, man braucht diese ganze Wahrscheinlichkeits- und Prozentrechnerei im Alltag nicht, kommt immer wieder auf. Dabei sind wir umgeben von Risiken! Von der Geburt bis zum Tod sind wir unzähligen Risiken ausgesetzt. Das Risiko zu verunfallen oder gar zu sterben, das Risiko zu erkranken an diversen Viren, Krebs, Infektionen, dann die Risiken für unser Eigentum, Hab und Gut, das Risiko von zu viel oder zu wenig Regen, Kälte, Hitze, Versorgungsrisiken, politische Risiken, Krieg, Katastrophen, Risiken der Finanzmärkte für unser Vermögen wie Zins- und Wechselkursrisiken, Volatilitätsrisiko, Preisänderungsrisiko, Liquiditätsrisiko, Refinanzierungsrisiko, Kredit- und Bonitätsrisiko, Insolvenzrisiko, Ausfallrisiko, und so weiter und so fort. Doch selbst wenn wir keiner der vielen potenziellen Gefahren und Katastrophen vorzeitig zum Opfer fallen, wir weder an Corona noch bei einem Verkehrsunfall sterben, selbst dann haben wir immer noch das Langlebigkeitsrisiko mit der guten Chance, dass uns bei einem Leben, das deutlich länger dauert, als uns die Statistik ursprünglich gegeben hatte, das Geld und die Rente ausgehen werden, und wir uns das schöne Heim nicht länger werden leisten können, um die letzten zehn oder zwanzig Jahre zu genießen. Sie sehen, Risiken überall, und all diese Risiken haben direkt mit Wahrscheinlichkeit, Zufall und Prozentrechnen zu tun. Die Intuition leitet uns wie gemerkt nur schlecht.

Nicht auf das Bauchgefühl vertrauen. Nicht im Risikomanagement.

Das Bauchgefühl darf gerne in Liebessachen und beim guten Essen und Trinken die entscheidende Rolle spielen. Im Risikomanagement haben Bauchgefühl und Intuition allerdings nichts verloren. Sobald es um Wahrscheinlichkeiten geht, sollten wir unsere Spreadsheets und Taschenrechner auspacken und die Kennziffern, die uns in so vielen Reports und Analysen um die Nase geworfen werden, kritisch und vor allem analytisch hinterfragen. Nur so lässt sich eine informierte Entscheidung treffen. Und wir sollten nicht vergessen: Zufällige Ereignisse sind genau das: Zufällige Ereignisse. Die Zukunft kennt niemand, und welche Ereignisse schlussendlich eintreten werden, können wir nicht vorhersagen. Es hilft aber, mit den richtigen Wahrscheinlichkeiten zu arbeiten und eine realistische Einschätzung zu gewinnen.