Niedrigzinsen. Seit einem Jahrzehnt gehören sie in Europa zum Alltag. Die Japaner haben bereits seit mehr als zwei Jahrzehnten Erfahrung mit Zinsen um die Null Prozent. Sie werden gepriesen als der Weg aus der Dauerkrise. Doch bringen niedrige Zinsen, was uns die Politik verspricht? Woher kommen sie überhaupt, und warum halten sie sich bereits so lange? Wir blicken auf einige der Widersprüche, die wir in der absurden Welt der Niedrigzinsen sehen.

Mythos 1: Niedrigzinsen sorgen für Wirtschaftswachstum

Die Logik jener, die diese These vertreten, klingt ungefähr so: Durch die niedrigen Zinsen kostet es wenig, sich zu verschulden, also investieren Unternehmen und Konsumenten umso mehr und sorgen so für Wirtschaftswachstum. Tatsächlich aber sehen wir seit Beginn der Niedrigzinsphase kein nennenswertes Wirtschaftswachstum. Weder in Europa und noch länger nicht in Japan. Viele Unternehmen investieren eher vorsichtiger oder gar nicht, und Konsumenten sind seit Jahren sehr zurückhaltend.

Mythos 2: Billiges Zentralbankgeld erhöht die Kreditvergabe

Die Europäische Zentralbank legt selbst fest, zu welchem Zins sich die bei ihr akzeptierten Geschäftsbanken Geld leihen können. Dadurch soll – so die Theorie – die Geldmenge erhöht werden und Banken durch billiges Zentralbankgeld dieses Geld ebenso günstig an Unternehmen und Verbraucher in Form von Krediten weitergeben. Die Realität sieht anders aus. Seit Jahren verschärfen Banken ihre Kreditvergaberichtlinien. Es werden weniger Kredite vergeben anstatt mehr. Die Geldschwemme ist ausgeblieben. Gut zu sehen ist das anhand der Daten der regelmäßig von der EU veröffentlichten Bank Lending Survey.

Mythos 3: Niedrigzinsen sind eine Entscheidung der Zentralbank

Werden Zinsen wirklich von der Zentralbank „gemacht“? In Politik und Medien wird das weithin so behauptet. Die Zentralbank – so die allgemeine Vorstellung – legt den Zins fest, und dieser gilt dann für alle am Wirtschaftsleben beteiligten Menschen und Unternehmen. Dass die Zentralbank die Zinsen bestimmt ist ein Märchen. Sie legt wohl den Zins fest, zu dem sich Geschäftsbanken bei ihr Geld leihen können, in der Regel in Form von Repos. Alle anderen Zinssätze für alle anderen Laufzeiten und Bonitätslevels legt der Markt fest, und dieser wiederum besteht aus allen am Wirtschaftsleben Beteiligten, und zwar denen im Inland als auch im Ausland! Denn was sind Zinsen? Sie sind der Preis für das Leihen von Geld in einer bestimmten Währung, und der wiederum ist nichts mehr als der erwartete Kaufkraftverlust (= Inflation) über die Laufzeit sowie das individuell erwartete Ausfallrisiko. Die Inflationserwartung wiederum ist ein Resultat des erwarteten Wirtschaftswachstums. Für die Entscheidung, zu welchem Zinssatz ich Ihnen für eine Laufzeit von 15 Jahren Geld leihen sollte, werde ich mir Gedanken machen, wie ich das Wirtschaftswachstum und damit die Inflation über diese 15 Jahre einschätze sowie mir um Ihre ganz individuelle Bonität Sorgen machen. Und die Geldschwemme, werden Sie fragen, heizt die nicht die Inflation an?

Mythos 4: Die Niedrigzinsen heizen die Inflation an

Die These lautet hier, dass durch das billige Zentralbankgeld eine Geldschwemme geschaffen wird, und da Inflation in erster Linie ein monetäres Phänomen ist, also zu viel Geld für die vorhandenen Produkte und Dienstleistungen, müsste das Geld an Wert verlieren bis hin zur völligen Wertlosigkeit. Dagegen sollte man mehrere Überlegungen stellen. Erstens haben wir die Zeiten des Bargeldes heute verlassen. Die weitaus größeren und wichtigeren Geldmengen sind in Form von Buchgeld vorhanden, und diese wiederum werden nicht von der Zentralbank geschöpft, sondern von allen anderen Finanzmarktteilnehmern. Die Zentralbank hat nicht einmal eine annähernde Ahnung davon, wie hoch diese Summe sein könnte. Denn zweitens ist die Geldmenge keine Sache von Landesgrenzen, sondern global, und dadurch noch mehr dem Zugriff nationaler Zentralbanken entzogen. Da aber genau diejenigen, die Geldschöpfung tatsächlich vollbringen, wie Banken, Schattenbanken und Investoren, seit Jahren zurückhalten sind eben WEIL die Zinsen niedrig sind und sie am Verleihen von Geld nicht mehr genug verdienen, steigt weder die globale Geldmenge in Euro oder Dollar, noch steigt dadurch die Inflation. Sie fragen nach der schwindelerregenden Bilanzausweitung der Zentralbanken? Die sind nichts weiter als Bilanzpositionen, sowohl bei der Zentralbank als auch bei den Geschäftsbanken. Mit dem „echten“ Wirtschaftsleben kommen diese Positionen nicht in Kontakt.

Mythos 5: Der Staat kann durch Konsum und Schulden die Wirtschaft ankurbeln

Wir sehen es überall: Staaten und Kommunen verschulden sich in schwindelerregender Höhe. Die Einnahmen aus den vielen Trillionen neuer Staatsanleihen fließen in Unternehmen, Infrastruktur und diverse Unterstützungsprogramme. Dass die Wirtschaft dadurch langfristig positive Impulse erhalten kann ist – so zeigt und die Erfahrung – meist ein Trugschluss. Staatliche Allokation ist schlicht nicht sehr effizient. Finanziert werden große Unternehmen (Lufthansa, TUI, Airbus, die Autoindustrie) und unproduktive Infrastrukturprojekte. Die wahre, nachhaltige Wertschöpfung und die meisten Arbeitsplätze aber kommen aus kleinen, innovativen Unternehmen des Klein- und Mittelstandes, die in der Regel leer ausgehen. Japan ist ein gutes Beispiel. Die Städte sind modern und überall finden sich die schönsten, wunderbarsten Parkanlagen, aber zu Wirtschaftswachstum hat all das nicht geführt. Dafür zu einer der höchsten Staatsschuldenquoten der Welt. Völlig umsonst wie es scheint.

Paradoxon 1: Mehr Leverage. Weniger Equity.

Durch die Niedrigzinsen sollen Unternehmen unterstützt werden. Es soll ihnen ermöglicht werden, günstig Geld zu leihen, damit schaffen sie in der Theorie neue Produktionsstätten an, investieren in neue Technologien, Forschung und Entwicklung, und all das führt in weiterer Folge zu mehr Produktivität, Innovation, mehr Arbeitsplätzen und damit Wirtschaftswachstum. So die Theorie. In der Praxis verschulden sich vor allem sehr große, börsennotierte Unternehmen massiv. Doch anstatt damit in ihr Unternehmenswachstum zu investieren indem sie neue Fabriken, Büros, Arbeitsplätze und Forschungen schaffen, machen sie vor allem zwei Dinge mit den Milliarden, die sich sich über Banken und den Kapitalmarkt leihen: Sie zahlen das Geld in Form von Dividenden oder Aktienrückkäufen an ihre Aktionäre. Und sie kaufen damit andere Unternehmen, die bisher ihre Konkurrenten waren. Auf die Unternehmenskäufe folgen Entlassungen und Kosteneinsparprogramme, außerdem sinkt die Konkurrenz, was wiederum nachgewiesener Maßen nicht gut ist für Innovation und Wirtschaftswachstum. Gut zu beobachten war diese Dynamik übrigens in der aktuell sehr in der Öffentlichkeit stehenden Pharmabranche.

Paradoxon 2: Höhere Bewertungen. Höheres Risiko.

Wie werden Aktien und Fixed Income Produkte bewertet? In der Regel durch das Abzinsen von zukünftig erwarteten Zahlungsströmen. Das können erwartete Zinszahlungen sein, Dividenden, Unternehmensgewinne, Free Cashflow, etc, die mithilfe eines Zinssatzes abgezinst werden, um den Wert dieser zukünftigen Zahlungen aus heutiger Sicht zu bewerten. Das war alles gut und schön in Zeiten höherer Zinsen. Doch heute, wo wir sogar negative Zinsen sehen, sind diese Bewertungsmodelle weniger nützlich bis hin zu absurd. Ein Resultat sehr niedriger Bewertungszinssätze ist, dass der Barwert plötzlich deutlich größer ist. Die bewertete Aktie ist plötzlich viel mehr wert. Nicht, weil sich an den Fundamentaldaten etwas verändert hätte oder das Unternehmen plötzlich neue Produkte und neue Ertragsquellen aufgetan hätte, sondern alleine aufgrund des niedrigeren Diskontierungszinses. Diese höhere Bewertung wiederum gibt Investoren die Rechtfertigung, deutlich höhere Preise für die betroffene Aktie zu bezahlen. Sie nehmen dadurch immer mehr Risiko in Kauf. Niedrige Zinsen senken also keineswegs das Risiko, sie erhöhen es vielmehr.

Paradoxon 3: Menschen müssen mehr sparen. Sie können weniger konsumieren.

Da kommen wir auch schon zum nächsten Punkt. Die Welt besteht aus Menschen, und diese Menschen, die am Wirtschaftsleben teilnehmen, werden älter. Wollen sie nicht bis zu ihrem Tod arbeiten, legen sie während ihrer produktiven Arbeitsphase idealerweise Geld zurück, um sich daraus später eine Rente zu leisten. Die Menschen sparen. Doch nun müssen sie plötzlich mehr sparen, da der Zins- und Zinseszinseffekt wegfällt. Was aber gespart wird fließt nicht in den Konsum. Die Menschen schränken sich heute ein, um ihren Konsum von morgen zu finanzieren, doch aufgrund der fehlenden Wertzuwächse ihrer Spareinlagen müssen sie ihren heutigen Konsum deutlich stärker einschränken. Weniger Konsum bedeutet weniger Nachfrage für Unternehmen und damit weniger Wirtschaftswachstum.

Paradoxon 4: Niedrige Zinsen sollen für Wirtschaftswachstum sorgen. Banken werden aber geschwächt

Niedrige Zinsen sollen die Wirtschaft stärken, indem sie Investitionen auf Kredit billiger macht. Gleichzeitig aber schwächen niedrige Zinsen vor allem einen wichtigen Sektor: Die Banken. Sie verdienen über das klassische Fixed Income Geschäft schlicht nicht mehr genug, ihre Profitabilität leidet. Dadurch fehlt der Anreiz für Banken, ihr Kreditgeschäft dramatisch mehr auszuweiten. Sie haben einfach nicht genug Ertrag auf ihr Eigenkapital. Durch die Niedrigzinsphase wird eines der wichtigsten Zahnräder der Wirtschaft geschwächt.

Fazit: Niedrigzinsen sind ein Phänomen. Sie sind kein Mittel aus der Krise.

Zinsen spiegeln die Erwartungen der Finanzmarktteilnehmer für die zukünftige Entwicklung von Wirtschaftswachstum, Inflation und Bonität wider. Sie sind ein Phänomen, dem ganz fundamentale Überlegungen der Teilnehmer am wirtschaftlichen Leben zugrunde liegen. Sie sind weder eine aktive Entscheidung einer Zentralbank, noch sind sie durch diese steuerbar. Die Welt des Geldes und damit der Preis des Geldes sind viel komplexer und folgen einer Vielzahl globaler Zusammenspiele und wechselseitiger Wirkungen. In den vergangenen Jahrzehnten haben wir gelernt, mit niedrigen und negativen Zinsen umzugehen. Wir haben unsere Bewertungsmodelle angepasst, Investmentstrategien verändert und Erwartungen adaptiert. Niedrigzinsen sind Teil unseres Lebens geworden. Was sie nicht können ist, uns aus der Dauerkrise zu führen. Dann schließlich sind Zinsen nur ein Phänomen und kein Mittel.