Nachhaltigkeit, Umwelt- und Klimaschutz, soziale Verantwortung, Gendergerechtigkeit und eine verantwortungsvolle Unternehmensführung sind zu modernen Themen geworden. Das ist gut so. Investoren suchen nach Anlagekriterien, Unternehmen machen sich Gedanken über eine nachhaltige Best Practice, Aufsichtsbehörden entwickeln einheitliche Standards und die Öffentlichkeit wünscht sich sowohl Über- als auch Durchblick. Nur allzu gerne treten dafür immer mehr selbsternannte ESG Ratingfirmen auf den Plan, die ESG-Ratings, ESG-Farben oder ESG-Punkte nach eigenem Gutdünken vergeben. Bezahlt werden sie dafür von den Unternehmen, die sie beurteilen.

E (environmental), S (social) und G (governance) sind nicht vergleichbar!

Unser erstes Problem als Investor oder auch als Unternehmen besteht in dem aus unerfindlichen Gründen aktuell zusammengewürfelten Bereichen Umwelt- und Klimaschutz mit sozialen Aspekten und der nachhaltigen und verantwortungsvollen Unternehmensführung zu einem einzigen Begriff: ESG. Sicherlich beeinflussen sich die drei Bereiche gegenseitig in nicht unbeträchtlicher Weise. Dennoch sind es komplett unterschiedliche Dinge, über die wir sprechen! Vielleicht ist ein Unternehmen ein Vorreiter bei der Reduktion von CO2 oder verwendet nur noch biologisch abbaubares Plastik. Aber gleichzeitig behandelt dieses Unternehmen seine Mitarbeiter extrem schlecht, beutet seine Lieferanten aus und schafft es, über grenzüberschreitende Steueroptimierung einen Steuersatz von 4% zu erreichen, trotz Milliardengewinnen im Konzern. Auf der anderen Seite mag es ein Unternehmen geben, dessen Hauptgeschäft fossile Brennstoffen sind. Gleichzeitig ist dieses Unternehmen aber ein Vorreiter in Sachen Gender und Minderheiten, Stakeholder Mitbestimmung, faire Lieferketten, zahlt den regulären Steuersatz und verhält sich als ein verantwortungsvolles Mitglied der lokalen Gesellschaft. Beide Unternehmen erreichen womöglich die selbe ESG Punktezahl oder das selbe ESG Rating. Sie unterscheiden sich allerdings gravierend.

ESG Punkte sagen nicht viel aus

Ohne eine Benchmark sagen irgendwelche Punkte nicht viel aus. Oder wie ernst würden Sie die Sache nehmen, wenn ich Ihnen jetzt sagen würde, dass die BahlConsult GmbH gerade 391 ESG Punkte erreicht hat und wir darauf wahnsinnig stolz sind, deshalb übrigens jetzt auch unsere Honorare erhöhen, aber Sie dafür gegenüber Ihrem CFO argumentieren können, dass Sie ein mit 391 ESG Punkten bewertetes Beratungsunternehmen beschäftigen. Die 391 Punkte sind übrigens frei erfunden, es geht hier nur um ein plakatives Beispiel. Aber einmal angenommen, es wäre so. Ich zeige Ihnen darüber sogar ein buntes Zertifikat, auf dem zusätzlich steht, dass wir mit 391 Punkten unter den Allerbesten sind, und dass für die Beurteilung jeweils 100 Datenpunkte aus E, S und G analysiert wurden. Und nehmen wir jetzt an, dass Sie nicht zu den vielen Menschen gehören, die jetzt zufrieden und anerkennend nicken, sich damit zufrieden geben und mir glauben. Nehmen wir an, Sie fragen nach. Sie fragen nach, ob Sie unser ESG Rating irgendwo auf einer unabhängigen Webseite nachprüfen können. Aber nein, das können Sie nicht, denn das Rating ist nicht öffentlich zugänglich, das Ratingunternehmen faselt etwas von Datenschutz. Also fragen Sie nach, wie viele Punkte denn andere, vergleichbare Beratungsunternehmen haben. Wieder geheim, wieder Datenschutz. Sie fragen nach, wie denn die durchschnittliche Bewertung der Beratungsbranche ist. Aber leider wieder Fehlanzeige, wieder Datenschutz. Sie haben also weder eine Benchmark noch irgendwelche Vergleiche noch können Sie die von mir behaupteten 391 Punkte nachprüfen. Die genauen Kriterien und Fragen, die ich für die 391 Punkte erfüllen und beantworten musste, sind übrigens ebenfalls geheim, da müssen Sie dem Rating-Anbieter schon glauben, dass er sich auskennt und mir fundierte, relevante und nachhaltige Fragen gestellt hat. Sie denken jetzt, mein Beispiel ist an den Haaren herbeigezogen? Das ist es leider absolut nicht. So sieht erschreckender Weise die gängige Praxis bei ganz vielen ESG-Rating-Anbietern aus! Es gibt auch andere Anbieter, aber die Streu vom Weizen zu trennen ist dabei nicht immer leicht.

Inflation der ESG Ratings

Es gibt immer mehr ESG Ratings und Firmen, die diese Ratings vergeben. Reguliert ist der ESG Rating Markt übrigens nicht, jeder darf machen, was er will. Die vielen verschiedenen Ratings der vielen verschiedenen Firmen sind dabei absolut nicht vergleichbar. Es gibt keine Benchmark, keinen Marktstandard, keine einheitlichen Kriterien und auch sonst nicht viele Gemeinsamkeiten der Anbieter. Manche Anbieter sind seriös und meinen es relativ ernst, andere wiederum scheinen das Thema eher als einfache Einnahmequelle zu sehen. Neue Anbieter schießen wie Pilze aus dem Boden, und sowohl als Unternehmen aber auch als Investor wird es immer schwerer, den Überblick zu bewahren.

Immer eine Frage der Datenqualität

Wie jeder bereits aus dem Grundkurs Statistik weiß, ist ein Ergebnis immer nur so gut wie die Qualität der Daten. „Garbage in garbage out“ sagen die Engländer. Füttert man Modelle mit irrelevanten Daten, ist auch das Ergebnis irrelevant. Abhelfen würde hier natürlich Transparenz, übrigens ein Begriff, der im Zusammenhang mit ESG fast schon inflationär verwendet wird. Bloß nicht bei vielen der ESG Ratingfirmen. Denn sie sind alles andere als transparent. Die Fragenkataloge für Unternehmen werden streng geheim gehalten und geratete Unternehmen vertraglich zu Stillschweigen verpflichtet. Immer wieder sickern Details durch, etwa dass Unternehmen in Deutschland Dinge zu ESG gefragt werden, die hier ohnedies gesetzlich geregelt sind, und die Unternehmen, die eine Betriebsgenehmigung haben, sowieso schon lange erfüllen müssen. Hier geht es etwa um Betriebssicherheit, Lärmschutz, Umweltschutzauflagen, Arbeitnehmermitbestimmung, Arbeitszeitregelungen, Krankenversicherung für Mitarbeiter und dergleichen. Über die Qualität eines ESG-Ratings, das auf solchen Fragen basiert, müssen wir nicht diskutieren. Kein Wunder also, dass viele ESG Ratingfirmen sich lieber bedeckt halten und gerne Datenschutz und Betriebsgeheimnisse vorschieben.

Das Issuer Pays Modell als Problem

Wie schon bei Credit Ratings werden auch ESG Ratings vom zu ratenden Unternehmen bezahlt. Dieses Issuer Pays Modell hat schon bei Credit Ratings immer und immer wieder zu Interessenkonflikten und Betrug geführt. Nicht umsonst ist der Bereich der Credit Ratings heute stark reguliert. Bei ESG Ratings gibt es diese Interessenkonflikte natürlich ebenso, allerdings frei jeder Regulierung. Ein kleines Beispiel gefällig? Nehmen wir wieder die erfundenen 391 ESG Punkte für BahlConsult GmbH. Ich möchte jetzt lieber über 400 Punkte kommen, schließlich schauen mehr und mehr Investoren auf das ESG Rating Momentum, also die laufende Verbesserung der Punktezahl. Ich rufe deshalb meinen Analysten bei der Ratingfirma an, die mir die 391 Punkte verkauft hat. Ich sage ich brauche unbedingt über 400, und erwähne gleich im Nachsatz, dass ich parallel auch mit einem seiner Konkurrenten spreche, der mir bereits ein attraktives ESG Rating in Aussicht gestellt hat. Oh, und welche Überraschung, eine Woche später habe ich 405 Punkte! Samt buntem Zertifikat, das ich mir an die Wand hinter unserem Empfang hängen kann. Vielen Dank auch, die Rechnung dafür wird selbstverständlich pünktlich überwiesen.

Investoren sind in der Pflicht

Als Investor, der es mit ESG ernst meint, ist man in der Pflicht, genau hinzuschauen und sich nicht mit ESG Green Washing in die Irre führen zu lassen. ESG Ratings mögen eine nette Idee sein. Es gibt durchaus auch ESG Rating Firmen, die vergleichsweise seriös und transparent sind. Trotzdem können ESG Ratings, ESG Punkte und ESG Farben immer nur ein erster Anhaltspunkt sein. Als erster Filter mögen sich die seriöseren der ESG Ratings eignen. Eine echte Qualitätsanalyse lässt sich damit aber absolut nicht durchführen. Ein seriöser Asset Manager führt seine eigene Due Diligence durch, macht seine eigene Analyse und legt seine eigenen Kriterien fest. Für institutionelle Investoren mit direktem Zugang zum Investor Relations Team bei Unternehmen ist das zudem keine allzu umständliche Sache. Schwieriger haben es tatsächlich Konsumenten und Privatinvestoren, die keinen Zugang zu Daten, zu wenig Wissen und keinen Zugang zum Unternehmen haben. In ihrem Sinne wäre es wünschenswert, wenn auch bei ESG Ratings eine gewisse Regulierung, Marktstandards und vor allem komplette Transparenz kommen würde.