Am 20. April 2020 ging eine Schockwelle durch den globalen Finanzmarkt. Schlagzeilen vieler Medien titelten: „Erdöl handelt bei Minus 40 Dollar!“. Es war allerdings nicht das Erdöl selbst, dessen Preis ins Minus rutschte, sondern ein Erdöl-Futures-Kontrakt. Dass ein ansonsten sehr liquider Rohstoff-Future negativ werden kann, ist dennoch außergewöhnlich und hat Risikomanager und Händler wachgerüttelt. Die Welt steht derzeit Kopf, und was bisher normal war sollte nicht mehr als selbstverständlich genommen werden. Was war passiert?

Futures sind Terminverträge

Futures sind Verträge über den zukünftigen Kauf und Verkauf eines bestimmten Basiswertes. In diesem Fall handelte es sich um Erdöl der Qualität West Texas Intermediary (WTI), das vor allem in den USA gefördert wird und dort die wichtigste Rohöl Qualität darstellt. Futures sind im Gegensatz zu Forwards börsengehandelt. Das hat den Vorteil, dass Geschäfte mit Futures durch die Börse standardisiert sind. Zudem kümmert sich die Börse über ihr Clearing House um die Abwicklung sowie die Absicherung von Ausfallrisiken durch Margin Konten und Sicherheiten. Händler kontrahieren direkt mit der Börse, und ersparen sich die mühsame Suche nach einem Handelspartner, der ihre Gegenposition einnehmen will. Dadurch steigt die Liquidität. An der Börse treffen sich Käufer und Verkäufer von Futures-Kontrakten anonym. Ein Handel kann aber nur zustande kommen, wenn es auch wirklich Käufer und Verkäufer gibt. Bei einem Future nennt man übrigens denjenigen Käufer, der vertraglich erklärt, den Basiswert zum zukünftigen Zeitpunkt zu kaufen (hier der Käufer von Erdöl), und der Verkäufer des Futures verpflichtet sich, den Basiswert zu liefern (das Erdöl zu verkaufen). Erdöl-Futures zählen zu den liquidesten Kontrakten überhaupt. An der NYMEX werden täglich etwa 1,2 Millionen WTI-Kontrakte gehandelt, wobei jeder Kontrakt 1000 Barrel Rohöl entspricht.

Futures haben eine begrenzte Laufzeit. Danach gibt es bei Öl-Futures echtes Erdöl.

Nun liegt es in der Natur der Sache, dass Futures Kontrakte als unbedingte Termingeschäfte eben diesen Termin enthalten, zu dem das Geschäft dann tatsächlich stattfinden wird. Futures haben also eine begrenzte Laufzeit. Sie dienen nämlich eigentlich der Absicherung von physischen Positionen, also etwa für Ölförderunternehmen auf der Verkaufsseite und Raffinerien auf der Seite der Käufer. Ist der Zeitpunkt gekommen, der vertraglich vereinbart wurde, liefert der Verkäufer das Erdöl und der Käufer nimmt es entgegen und zahlt den vereinbarten Betrag. Bei WTI Rohöl geht es pro Futures-Kontrakt um 1000 Barrel Öl, die in Cushing, einer Stadt im US-Bundesstaat Oklahoma, geliefert und empfangen werden, und zwar physisch, also mit echtem Erdöl. Entweder das WTI Öl wird dann in eine Pipeline gepumpt oder in eine der Lagerstätten in Cushing, oder es wechselt innerhalb eines Öltanks in Cushing seinen Besitzer.

Wer kein Erdöl in Cushing abholen will, muss verkaufen

Nun ist es nicht für jeden Händler praktisch oder überhaupt gewollt, Erdöl physisch in Cushing abzuholen. Vor allem nicht dann, wenn es sich um Finanzinvestoren oder reine Spekulanten handelt, die mit dem physischen Erdöl gar nichts zu tun haben, sondern nur auf Preisveränderungen spekulieren wollten. Sie müssen darauf achten, dass sie ihre Futures-Positionen noch vor deren Laufzeitende wieder schließen. Hat also jemand aus reinen Spekulationsgründen WTI Futures gekauft und sich damit verpflichtet, zu Vertragsende 1000 Barrels pro Kontrakt in Cushing, Oklahoma, in Empfang zu nehmen, muss er seine Kontrakte spätestens dann verkauft haben, bevor diese an der Börse nicht mehr handeln weil ihr natürliches Ende gekommen ist. Möchte der Investor seine Position weiter aufrecht halten, kauft er sich stattdessen den Future-Kontrakt mit der nächsten Laufzeit. Man nennt dieses Geschäft „den Future rollen“. Dass Futures gerollt werden, geschieht in allen Futures Kontrakten regelmäßig vor dem Laufzeitende des sogenannten „on-the-run“ Kontrakts, der ausläuft.

Theoretisch sollten Future und Spot Preis am Laufzeitende identisch sein. Theoretisch.

Grundsätzlich gibt es bei Futures das Gesetz der Konvergenz. Das heißt, dass sich zum Laufzeitende des Futures der Preis für den Future jenem des physischen Spot-Preises annähert, und am Verfallstag sind beide Preise identisch. Ist das nicht der Fall, wäre Arbitrage möglich, also ein risikoloser Gewinn. Denn wäre der Preis des Futures unter dem des Spot Preises, könnte ein Händler den Future billig kaufen und dann den Basiswert am Weltmarkt zum Spotpreis wieder verkaufen und den Unterschied als risikolosen Gewinn einstreichen. Umgekehrt ebenfalls, sollte der Preis des Futures höher sein als Spot, könnte jemand den Future verkaufen und sich den Basiswert am Spotmarkt billiger einkaufen und diesen dann mit Gewinn liefern. Am 20. April 2020 waren Spot und Future aber alles andere als konvergent. Der Mai 2020 Future, der am 25 April 2020 endete, sollte am 21. April aufhören zu handeln. Der Preisunterschied zwischen dem tatsächlichen WTI Ölpreis und dem Future Preis war trotzdem enorm, teilweise um die 50 US-Dollar pro Barrel! Wie konnte das passieren?

Arbitrage im Rohstoff-Markt nur für „echte“ Händler machbar

Arbitrage zwischen Future und echtem Spot-WTI-Öl ist für die meisten Spekulanten, die nichts mit Öl am Hut haben, keine wirkliche Alternative. Wir sollten sie denn in Cushing Erdöl entgegen nehmen, und zwar physisch, und an wen dann weiter verkaufen? Rein logistisch wäre das schwierig bis unmöglich, und auch praktisch fehlen allen, die nicht im Ölhandel tätig sind, Kontakte, Wissen und die Infrastruktur dafür. Erdöl-Futures sind aufgrund ihrer physischen Lieferung aber nun mal ein Instrument der Absicherung für tatsächliche Erdöl-Händler. Spekulanten wissen das spätestens seit dem 20. April 2020, haben davor aber das Risiko, das mit der physischen Lieferung verbunden ist, ignoriert. Gerade bei physisch gesettelten Kontrakten ist das Gesetz der Konvergenz nur dann gegeben, wenn wirklich nur „echte“ Öl-Händler aktiv handeln. Erdöl hat aber noch eine andere, erschwerende Eigenschaft: Hohe Lager- und Transportkosten, die sogenannten „Cost of Carry“. Erdöl zu lagern ist teuer, erfordert spezielle Tanks oder das Anmieten eines Spezialschiffes, die laufenden Kosten sind signifikant und nicht jedes Rohöl passt für jede Raffinerie. Das physische Erdöl-Geschäft ist ein komplexes Business. Arbitrage ist hier nur für „echte“ Marktteilnehmer möglich. Die aber handeln untereinander niemals die erwähnten 1,2 Millionen WTI-Kontrakte täglich. Im WTI-Futures Handel sind mittlerweile viele, viele Spekulanten und Investoren unterwegs, sogar Privatpersonen und immer mehr ETFs. Sie alle wollen gar kein physisches Erdöl kaufen oder verkaufen, sie wollen nur an den Preisentwicklungen teilhaben. Bisher war das nie ein Problem. Die Liquidität war vorhanden und jeder konnte vor Laufzeitende seine Positionen auflösen und damit glattstellen. Doch physisch gelieferte Rohstoff-Futures sind nicht das Selbe wie Bund- oder Treasuryfutures! Hier gelten im Zweifel andere Gesetze. Auch in der Bewertung und vor allem im Risikomanagement!

Spekulanten, ETFs und Privathändler waren zum Verkauf gezwungen

Als nun Ende April der Mai 2020 Kontrakt seinem Ende zuging, machten sich all jene, die Futures-Kontrakte gekauft hatten, daran, diese wieder zu verkaufen. Sie hatten auf steigende Preise gesetzt. Jetzt mussten sie ihre Positionen im Mai-Kontrakt verkaufen. Ansonsten hätten sie die Verpflichtung, im Mai in Cushing, Oklahoma, jeweils 1000 Barrel WTI-Öl pro Kontrakt abzuholen. Dass Spekulanten ihre long-Positionen verkaufen ist zu Kontraktende nichts Neues. Ihnen bleibt auch nichts anderes übrig. Doch was dann geschah, überraschte die sonst so von schier grenzenloser Liquidität verwöhnten Erdöl-Futures-Händler: Es gab keine Käufer für die Verkaufsaufträge! Was folgte war ein Panikverkauf. Diejenigen, die sich aus rein spekulativen Gründen dazu verpflichtet hatten, im Mai WTI-Öl in Cushing zu kaufen, mussten ihre Positionen um jeden Preis und unter Zeitdruck loswerden. Schließlich war der Handel im Mai Kontrakt kurz vor seinem Ende. Die letzten Minuten des Handelstages waren ein Desaster für alle, die noch im letzten Moment verkaufen mussten. Die wenigen Käufer im Markt nutzten die Panik und Notlage der Verkäufer schamlos aus. Der Preis sank auf minus 40 US-Dollar pro Barrel. Pro Kontrakt mussten die Verkäufer also 40.000 Dollar an die Käufer bezahlen, damit sie ihnen das Öl abnahmen. Wohl gemerkt, der Spot-Preis von Öl, also jener Preis, zu dem nicht der Future sondern physisches Erdöl am Weltmarkt gehandelt wurde, lag deutlich positiv bei geschätzt 15 US-Dollar pro Barrel (die tatsächlichen Spot-Preise werden erst mit einer Woche Verzögerung veröffentlicht, deshalb wird für den aktuellen Preis von Erdöl auch meist der Future-Preis angegeben). Für einen Käufer, der auch tatsächlich aus der Ölbranche kommt, also ein Nettogewinn von 55.000 Dollar pro Kontrakt.

Warum gab es keine Käufer?

Wo waren die ganzen Käufer geblieben, die ansonsten die Positionen abnahmen? Zum einen scheint es einen Überhang spekulativer Long-Positionen gegeben zu haben, also Investoren und Händler, die auf einen Anstieg der Ölpreise gesetzt hatten, nachdem sich die OPEC+ auf Fördergrenzen geeinigt hatten. Zum anderen waren jene, die ansonsten tatsächlich physisches Erdöl kaufen, bereits mit vollen Lagern konfrontiert. Cushing mit seinen sonst schier endlosen Lagerstätten für Öl war erstmals in seiner Geschichte an seiner Kapazitätsgrenze angelangt. Die Preise für Lagerstätten gingen nach oben, und natürliche Abnehmern wie Raffinerien hatten keinen Bedarf für noch mehr Rohöl aufgrund der kollabierten Nachfrage. Es gab schlicht keinen Bedarf für die vertraglich mit Futures geschaffenen Barrel an Öl. Und dort, wo Angebot und Nachfrage aus dem Gleichgewicht laufen, gerät auch der Preis aus den Fugen. Gezwungener Kauf oder Verkauf sind zudem schlechte Verhandlungspositionen. Der Mai-Kontrakt war zum Zeitpunkt des Rolltermins in eine Liquiditätsfalle geraten und hat bestimmt so manche Händler, Fonds und Spekulanten in den Ruin geführt.

Bewertungs- und Risikomodelle haben versagt

Future ist nicht gleich Future. Ein physisch gesettelter Erdöl-Kontrakt hat ganz andere Risiken als ein cash gesettelter Bundfuture auf eine synthetische Bundesanleihe. Liquidität ist in jedem Finanzinstrument wichtig, aber auch die Erkenntnis, dass manche Kontrakte für tatsächliches Hedging konzipiert sind und nicht für reine Spekulation. Dass ein Future Preis negativ werden kann und das Gesetz der Konvergenz außer Kraft tritt, haben die Risikobewertungssysteme von Händlern, Banken und sogar Clearing Häusern bisher nicht berücksichtigt. Bisher gab es diesen speziellen Fall auch nicht. Doch nun werden die Bücher wohl anders geschrieben und physische Lieferung bei gleichzeitig hohen Cost of Carry als zusätzlicher Parameter definiert werden. Der Handel mit Derivaten ist falsch angewendet ein Risiko mit großem Hebel. Ein gutes Verständnis von Produkt, Markt und Dynamik sind für Risikomanager gerade in turbulenten Zeiten wie diesen wichtiger denn je.